Im Interview: Autor Jochen Ruscheweyh über Kamen, Intrigen und Psychopathen

Jochen Ruschweyh weiß nicht nur was das beste Anthrax-Album der Big Four-Phase ist, sondern kennt auch die beste Aussicht auf den Förderturm in Kamen. | Foto: privat
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  • Jochen Ruschweyh weiß nicht nur was das beste Anthrax-Album der Big Four-Phase ist, sondern kennt auch die beste Aussicht auf den Förderturm in Kamen.
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Jochen Ruscheweyh ist ein Autor, der Kamen und Ruhrgebietsatmosphäre authentisch einzuordnen weiß. Sein neuer Text erscheint in der Sammlung "Gemeinsam grundverschieden" im Dortmunder Schreiblust-Verlag. Im Interview äußert sich der in in Hörde aufgewachsene und in Kamen-Mitte lebende Schriftsteller zum Schreiben, zum Leben an der Seseke und kulturellem Treiben mit Slang.

Jochen Ruscheweyh im Stadtspiegel-Interview mit Steffen Korthals:

Vom Abfackeln und vom Förderturm
Ich bin in einer Stahlarbeiter (Hoeschianer)-Siedlung im Dortmunder Süden großgeworden, jetzt lebe ich in einer Zechensiedlung. Früher habe ich die Fackel und den Kühlturm von Hoesch vom Fenster aus sehen können, jetzt den Förderturm. Beide Orte haben eine industrielle Vergangenheit mit entsprechenden Wahrzeichen und wahrscheinliche ähnliche Sorgen, was Haushaltslage und Aufstellung für die Zukunft angeht. Hörde kann im direkten Vergleich - zumindest im Moment noch - mit mehr Krankenhäusern punkten, theoretisch mit einer eigenen Brauerei (Stifts, auch wenn in Hörde nicht mehr gebraut wird) und dem Phönixsee. Allerdings Beversee und Marina Rünthe in (Berg)kamen können da locker mithalten. Die U-Bahn braucht 10 Minuten von Hörde nach Do-City, der RE von Kamen genauso lange. Ich denke, die Bilanz ist also recht ausgeglichen.
Ich mag die renaturierte Seseke, die Lage zwischen den Autobahnen, dass ich eigentlich alles in der Nähe habe (Sparkasse, Apotheke, Einkaufen am Technologiezentrum und IKEA) und es mit dem Fahrrad nicht weit in die Stadt ist und dass es dabei keinen Berg rauf geht.
Ach ja, das Wort "Furche" kannte ich nicht im Zusammenhang mit Garten, bevor ich nach Kamen gezogen bin, dafür war hier keinem das Wort "Kotten" (für Arbeitsplatz) bekannt. Mit dem "nicht Schätzen" ist das immer so eine Sache. Wenn ich etwas schlecht finde, sollte ich mich - finde ich zumindest - dafür einsetzen, dass es besser wird. Mache ich das nicht, kann es nicht so schlecht sein.

Vom Schreiben im RE und anderen Strecken
Ich bin seit Jahren im Mitmach-Projekt des Schreiblust-Verlags aktiv. Dort wird jeden Monat ein Thema vorgegeben, zu dem man einen Text schreiben kann, der dann über SL auf der Webseite veröffentlicht wird (http://schreib-lust.de/schreibaufgabe/index.php). Dafür erklärt man sich im Gegenzug bereit, mitzuhelfen andere Texte, die dort hochgeladen werden, im geschlossenen Forum zu bewerten und Tipps zum Überarbeiten zu geben. Am Ende des Monats wird unter den Forumsmitgliedern gevotet und die ersten 3 Texte kommen ins Jahrbuch. Kurz vor Beginn eines neuen Monats schaue ich mir das Thema an, und zwei bis drei Tage später habe ich meist eine Idee.
Ich schreibe meist auf dem Weg zur Arbeit nach Herdecke. Der RE fährt zu fix, da lohnt es sich nicht das Notebook anzumachen (obwohl ich auch schon einige Storys komplett auf einem alten Blackberry Handy geschrieben habe), von Dortmund nach Herdecke habe ich jeden Arbeitstag 2x 30 Minuten. Die Rohversion eines Textes steht auf diese Weise innerhalb einer Woche, würde ich sagen. Dann bekommt den Text meine Freundin Jeanette als weltbeste Lektorin (auch wenn sie seit Jahren bestreitet, Ahnung vom Schreiben zu haben) zu lesen, die den Daumen entweder hoch oder runter hält. Bei Daumen runter zieh ich einen Flunsch, weil ich weiß, dass sie recht hat und überarbeite den Text. Daumen hoch bedeutet, ich schicke ihn direkt an das SL-Team um Andreas Schröter zum Hochladen. Letztes Jahr habe ich, wenn ich mich richtig erinnern kann, meine 50 Story dort veröffentlicht, also müssten es jetzt dann so irca. 60 sein. Eine Schreibblockade habe ich - dreimal klopf auf Holz - bisher noch nie gehabt.

Harte Schule, skurrile Träume, unheimlicher Nahverkehr
Ich bin allerdings auch durch die harte Schule des Kreativen Schreibens in der VHS Dortmund gegangen, wo wir ein Thema bekamen und dann 30 Minuten Zeit hatten einen Text zu verfassen. Jeder Text wurde vorgelesen, auch wenn er nicht fertig war (es sei denn, jemand wollte absolut nicht). Das war ein super Training, ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Sachen funktionieren und welche nicht.
Manchmal träume ich skurrile Dinge, verlese mich bei Zeitungsartikeln oder schnappe irgendetwas falsch aus dem Fernsehen auf. Das ist dann vielleicht ein Startpunkt für eine Story. Auch Filme und Serien beeinflussen mich glaube ich.
So drei Stunden pro Arbeitstag insgesamt bin ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Sicher fällt mir ab und zu etwas "Durchgeknalltes" auf, das anonymisiere ich dann aber und nerve nur meine Facebook-Freunde damit. Ich fände die Vorstellung ziemlich spooky, dass jemand, der mich in Bus oder Bahn beobachtet, eine Figur für eine Story aus mir macht. Also tue ich das auch nicht. Davon abgesehen glaube ich auch, dass ich oft ziemlich unschlau aussehe, wenn ich denke oder Musik höre und damit eh keine gute Inspiration für andere bin. Oder vielleicht grade doch deswegen. Hmm ... Die Story in der aktuellen Anthologie hat auch einen Bezug zum Thema Nahverkehr, ist aber definitiv vollkommen fiktiv.

Pott-Literatur, Metal der Neunziger und Bier von der Bude
Ich finde es immer wichtig, dass Sachen authentisch rüberkommen. Ich lebe im Ruhrgebiet oder in Westfalen, je nachdem wie man das sehen will, und deswegen handeln viele meiner Texte auch von hier. Für einige Storys habe ich auf frühere Schottlandreisen zurückgegriffen, aber selbst da hab ich trotzdem an einigen Stellen die Verbindung nach hier in die Heimat hergestellt. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass ich schreiberisch gesehen eher Egoist bin und daher hauptsächlich Sachen verfasse, die ich selbst gerne lesen würde.
Die meisten Thriller, Horror- oder Kriminalstorys, die ich früher gelesen habe, spielten in London, New York oder Los Angeles, vielleicht mal in Berlin. Geschichten oder Romane mit Regionalbezug hatten immer einen hohen Gähn-Faktor. Das hat sich glücklicherweise stark geändert. Trotzdem habe ich irgendwie noch diese innere Mission, unsere Region auf der Underground-Literatur-Schiene nach vorne zu bringen.
Ein Teil meiner Texte handelt von einer fiktiven Metalband in den Neunzigern. Ich habe früher selbst in diversen Bands in Dortmund und Bochum gespielt und glaube, dass das in dieser Form - also die Kombi aus Szene-Slang und Ruhrgebietssprache und eigenen Wortneubildungen - nicht nach irgendwo anders hin übertragen werden kann, da dann die Authentizität flöten geht. Ach ja, die Bandstorys (http://www.shakemybantahoe.de/Bandpopoup.html) tragen sich konsequenter Weise natürlich in Hörde zu, bis auf eine, die hier in Kamen spielt.

Hier eine Passage daraus:
[Zitatanfang] Ich sag: „Ey, Pavarotti, das bringt doch nix, wir finden doch eh keine richtig Location für Pics!“
Pavarotti winkt ab: „Allet schon eingestieselt, Wuttke, wir fahren zu meim Cousin nach Kamen, da gibt's 'ne echt porno Zeche und der hat da Connections nache RAG, da knallen wa uns oben drauf und zack, is Kurt von unten am Knipsen!“
Schrö legt seine Stirn in Falten wie Buddha himself und meint: „Unser Buden-Kurt?“
„Ey, welcher sonst? Kurt Jürgens is’ doch wohl schon sowatt von lange unterm Torf!“, stellt Pavarotti fest und klopft gegen sein Glas, „Ey, Studi mach nomma drei Mopeds klar, watt?“
Ich denk so an Kurt seine 60er-Jahre Kamera in diesem kackbraunen Hart-Leder-Plastik-Korsett und wend’ ein: „Ey, Alter, falls wir überhaupt dadrauf kommen, was soll der denn für'n Objektiv vor seiner Wirtschaftswunder-Obscura haben?“
„Wuttke, dat is' Physik, dat raffse eh nich', weil de eben 'n Mann vonne Kunst bis'!“, meint Pavarotti, bevor sein Fokus umspringt wie 'ne Weiche am Hauptbahnhof, weil wohl grad irgendwer den Laden betritt. [Zitatende]

Intrigen, echte Arschlöcher und Psychopathen
Ich komme aus der Altenarbeit mit dem Schwerpunkt psychosoziale Betreuung, bin aber seit einigen Jahren freigestellter Betriebsratsvorsitzender. Wenn ich an die aktuellen und früheren Bemühungen von vielen Berufskolleginnen und Kollegen und mir denke, eine adäquate Entlohnung und faire Arbeitsbedingungen für ihre Tätigkeit (Stichwort Personalbemessung) zu erkämpfen und wie wenig echtes Feedback dazu aus Berlin kommt, dann könnte ich tatsächlich manchmal in eine getrübte Stimmung verfallen. Aber irgendwie bin ich immer noch Arbeitersiedlungskind genug, zu sagen: Wenn man lange penetrant an einer Sache dranbleibt, kriegt man am Ende was man will. Aber ich gebe zu, für mich ist es attraktiver über Intrigen, echte Arschlöcher, Psychopathen und Ungerechtigkeiten zu schreiben als einen seichten Text mit Happy End zu verfassen. Konflikte gehören dringend dazu finde ich. Etwas, was sehr in Richtung dunkle Seite geht, war mein Beitrag zur Sucht-Anthologie "Von Tausend Schatten".

Respekt und Schulterschlus
Bei den Kamener Kulturschaffenden, die ich schätze, da beschränke mich jetzt auf Autoren und sage Martina Bracke und Roswitha Koert. Bei Martina, die ja auch in der Anthologie vertreten ist, mag ich besonders ihre thrilleresken Kurzgeschichten, die ich glaube ich niemals mit sowenig Zeichen (Texte, die beim SL-Mitmachprojekt veröffentlicht werden, dürfen 10000 Zeichen nicht überschreiten) hinbekommen würde. Roswitha kenne ich auch schon recht lange und freue mich, dass sie soviel Erfolg mit ihren Veröffentlichungen und Lesungen hat. Bei ihr bewundere ich, wie sie die Leute mitnehmen kann.

Das Ruhrgebiet mit Buchstaben rocken
Ich kann mir vorstellen jeden Monat weiter eine Story bei SL einzustellen, bis die 100 voll sind. Scherz. Im Ernst: Ich überarbeite seit Längerem einen Phantasy-Roman mit einem süddeutschen Autor, bei dem wir langsam zum Ende kommen. Mit Claudia Kociucki, Heike Wulf, Louis Jansen und Michael Meyer habe ich Hamlet - rot/weiß (https://www.facebook.com/hamletrotweiss?ref=bookmarks) geschrieben, der auch im Schreiblust-Verlag erscheinen wird. Dabei handelt es sich um eine Übertragung der Hamlet-Thematik auf ein fiktives Bochumer Imbissbuden-Imperium mit fetter Ruhrgebietssprache. Wir haben bereits einige Lesungen hierzu gehabt, die viele positive Resonanzen bekommen haben. Eine Veröffentlichung in Buchform folgt.
Ich habe so viele Bandstorys der fiktiven Metalband zusammen, dass die locker ein bis zwei Bücher füllen könnten, aber ich will erstmal das Phantasy-Ding fertig machen.
Nebenbei wird es mit Claudia, Louis und Michael sicher weitere Lesungen als "Das gibt es nicht" geben.
Außerdem update ich monatlich meine Website http://www.shakemybantahoe.de/. Ich hasse das Wort Blogg. Daher weigere ich mich, von mir zu sagen, dass ich selbst einen Blogg mache. Ich verkünde da in kleinerem Rahmen meine Weisheiten und nenne das ganze "Shakigkeiten" http://www.shakemybantahoe.de/Shakigkeiten2015.html. Und was ich noch möchte, das ist mit meiner Lieblingsgewerkschaft daran mitarbeiten, dass die am Boden liegende Pflege wieder aufstehen kann.

Eckdaten Jochen Ruscheweyh:

Ab 1969: Dortmunder Süden. Nachts. Glühender Himmel. Stahlabstich. Taghelles Kinderzimmer. Eindrücke, die Jochen Ruscheweyh und seine späteren Texte prägen. Es beginnt mit kurzen Botschaften an seine Freundin auf Butterbrotpapier, wütenden Briefen an Lebensmittelherstellern oder verdrehten Songtexten. Eine Diplomarbeit im Fachbereich Sozialarbeit ordnet seine Gedanken kurzzeitig, ehe seine dunkle literarische Seite in einem VHS Kurs endgültig durchbricht. Er schreibt überall, im Sitzen, Stehen und Liegen, bevorzugt in der RB 52 auf dem Weg zur Arbeit. Seit 11 Jahren – der Liebe wegen – in Kamens Mitte zuhause (Quelle: Andreas Schröter, Schreiblust-Verlag).

Autor:

Steffen Korthals aus Kamen

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