Was hat Ernst Thälmann mit meinem Brillentragen zu tun?

Da hatte ich mich noch geweigert, eine Brille zu tragen
  • Da hatte ich mich noch geweigert, eine Brille zu tragen
  • hochgeladen von Julia Weber

Der Name von Ernst Thälmann war für uns Kinder ein negatives Wort. Wie konnte auch ein Kind, das in einem deutschen Dorf in Kasachstan geboren wurde, wissen, dass Ernst Thälmann Vorsitzender der KPD war? Aber irgendwie sind ja Kinder leicht zu beeinflussen und ich „wusste“, dass „dieser Mann“ kein guter Beispiel war.
Das hat sich in einer „Konfrontation“ mit einem meiner Mitschüler ergeben. Er hieß Ernst. Mein Geburtsname ist Kurt. Wie es immer so ist, die Kinder testen, wie weit sie mit einem anderen Mitschüler gehen konnten. Ernst hat mich in einer der Pausen (wir gingen beide in die Grundschule, wahrscheinlich in die 4. Klasse) mit einem Wort „beschimpft“, das mit meinem Namen und mit dem Rauchen zu tun hat. Es war eine persönliche Beleidigung für mich und für meine ganze Familie. Ernst sagte zu mir: „Kurt-Tabak“. Prompt anwortete ich: „Ernst Thälmann“. Oh, das hatte ihm gar nicht gefallen. Er wiederholte das Schimpfwort, ich ebenfalls meins. Dann sagte der Ernst: „Wenn du nochmal das sagst, schlage ich dich und wiederholte: „Kurt-Tabak“. Ich antwortete: „Ernst Thälmann“.
Und nun hatte ich eine sitzen und zwar gründlich. Er traf mein linkes Auge.
Meine Eltern schlugen mich nie, daher war dieser Schlag für mich ein gewaltiger Schock. Es war Winter. Ich rannte nach draußen … ohne Mantel. Wie lange ich da auf den Hucken saß, weiß ich nicht. Meine Lehrerin holte mich und sagte, dass ich nach Hause gehen solle. Mein Auge war zugeschwollen, sodass ich mit diesem Auge nichts sehen konnte. Ich spürte, wie das Auge schmerzte und der ganze Kopf „brummte. Aber nicht das kümmerte mich, sondern das, was meine Mutter sagt.
Zu Hause angekommen, ging ich ins Haus. Es war alles still. Ich schaute mich im Spiegel an: mein Auge war zugeschwollen und rot-blau angelaufen.
Das erste mal, soweit ich mich erinnern kann, dachte ich: „Ich muss jetzt stark sein und nicht weinen“. Meine Mutter kam herein und sagte zu mir: „So früh schon aus der Schule?“ Ich schwieg, richtete mein Auge auf den Boden und stand mit dem Rücken zu meiner Mutter. Die zweite Frage meiner Mutter war schon eindringlicher. Ich drehte mich um… Meine Mutter sah das zugeschwollene Auge, rannte auf mich zu: „Um Gottes Willen, mein Kind, was ist mit deinem Augen passiert?“Und plötzlich tat das Auge, der Kopf, ja der ganze Körper entsetzlich weh, ich weinte.
Damals war ich ca. 10 Jahre alt. In der 6. Klasse wurde festgestellt, dass ich eine Brille brauche, aber leider „ging“ sie immer kaputt. Später habe ich es eingesehen: ich wurde Brillenträgerin.

Nach Jahren traf ich Ernst zufällig. Ich stieg aus dem Zug aus und wollte, wie immer per Anhalter nach Hause fahren. Ich freute mich auf unser Zuhause, denn damals studierte ich in einer anderen Stadt: ich sollte Pionierleiterin werden und anschließend wollte ich Philologie studieren, obwohl ich immer noch träumte, Sängerin zu werden.
Ernst arbeitete damals als Fahrer und transportierte von der Station in unser Dorf irgendwelche Fracht. Selbstverständlich nahm er mich mit. Ich fragte ihn, ob er wüsste, warum ich eine Brille trage. Erwartungsgemäß ahnte er es nicht. Als ich es ihm erzählte, sagte er: „Sehr - sehr schade, aber warum hast du nicht auf mich gehört?“ Wir lachten zwar beide, aber irgendwie hatte er recht, aber ich auch, oder?
Es ist trotzden schön zu wissen, dass Ernst und alle meine Verwandten und meine Dorfbewohner auch in Deutschland leben in unserer Urheimat, aber es ist schon ein anderes Thema.

22.10.2018

Autor:

Julia Weber aus Kleve

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