Momente des Lebens
Der Entschluss

Höchstens noch eine Stunde und das Manuskript wäre fertig gewesen. Und nun das. Natürlich hatte ich damit gerechnet, irgendwann musste es ja so kommen. Aber doch nicht jetzt. Der Zugang zu den sprudelnden Quellen meiner Intuition war plötzlich aufs höchste gefährdet. Ich rieb mir die Augen, wollte es nicht fassen: War es denn wirklich schon so weit? Warum denn gerade jetzt? Und was hatte ich bereits für eine Mühe investiert! Es war doch so wunderbar glatt gelaufen, ganz ruhig, ohne größeres Stocken, ohne die endlosen, quälenden Pausen, in denen man das bereits Geschriebene immer wieder überfliegt oder an die Decke stierte, um eventuell dort etwas vom Fortgang der Geschichte abzulesen.
Sicher, ich war einige Male aufgestanden, war ans Fenster getreten und hatte die Augen zur Erholung über die Hecken und Büsche im Abendlicht gleiten lassen.
Jetzt schien aber alles wie mit einem grauen Schleier überzogen. Keine neue Kraft war zu schöpfen.
Langsam, wie gelähmt, stakste ich zu meinem Sessel zurück und ließ mich schwer hineinfallen. Nein, ich wollte es einfach nicht wahrhaben. So kurz vor dem Ziel.
Von draußen waren schwache Autogeräusche zu vernehmen. Normalerweise störte mich das nicht. Nun aber schien es mir den letzten Rest von Lebensqualität abschneiden zu wollen.
Nach einigen Träumereien versuchte ich es ein letztes Mal, aber der Stift entglitt der schlaffen Hand. Ich atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Es war wohl das Beste, ich machte endgültig Schluss. Mit umständlicher Mühe zerrte ich das iPhone aus meiner Hosentasche und drückte die Nummer. Als abgenommen wurde, wartete ich einige Sekunden und stotterte: „Es ... ist ... soweit!“ Die Stimme meiner Frau klang wie von ganz weit her:“ Soll ich alles - wie besprochen - vorbereiten!“ Ich hauchte nur noch ein mattes „Ja“ und ließ den Hörer kraftlos auf die Brust sinken.
Meine Augenränder füllten sich mit Tränen. Tausend Gedanken schwammen ineinander. Schleiertänze der Wehmut. Kraftlos rutschte ich auf dem Ledersessel nach unten und schloß die Augen. Es war nicht zu ändern. Wenn es kommt, dann kommt es eben. Ich faßte den einzig richtigen Entschluss. Hier sitzen zu bleiben wäre falsch. Mit letzter Willenskraft raffte ich meine schon gummiartig gewordenen Glieder und wankte die Treppe hinunter ins Schlafzimmer. Meine Frau hatte bereits die Decke zurückgeschlagen.
Ich sackte ins Bett, sie zog die Decke über mich, und ich war augenblicklich eingeschlafen.

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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