Grenzlinien

Schwer atmend stellte Eva die Kiste mit dem Kochgeschirr auf dem Tisch, in ihrer neuen Küche, ab.
„Die Küche haben wir jetzt oben. Ich habe Durst wie ein Elefant!“, sagte sie, nahm 2 Flaschen Bitburger, entkronte sie, und reichte eine Flasche an ihre Freundin weiter. Beide tranken gierig und in grossen Schlucken. Britta, die Freundin, nahm 2 Zigaretten und steckte sie an. Eine reichte sie an Eva weiter. Sie sassen ein paar Minuten, rauchten, tranken und schwiegen.
„Komm,“: meinte Britta, erhob sich langsam und stöhnte laut und übertrieben. „Wir sind ja nicht mehr die jüngsten, und sollten wenigstens noch das Bettzeug holen. Dann bestellen wir Döner und fallen in Tiefschlaf!“
Sie streckte die Hand aus, und zog Eva, die ebenfalls stöhnte und sich das Kreuz hielt, hoch.

Eva war ausgezogen. Raus aus dem schönen Haus mit dem wundervollen Garten, und weg von dem Mann, der so gut aussah, wie selten einer. Warum sie auszog, hatte sie niemandem gesagt. Sie wusste, das keiner es geglaubt hätte, und ersparte sich Erklärungen.
Es gab ohnehin nicht mehr viele, die es interessiert hätte. Allen war klar, das es nur an ihr liegen konnte. Sie war zur grauen Maus mutiert.
Zuerst war die Kleidung „schlampig“ geworden. Statt figurbetonender Kleidung, machten nun dunkle Säcke das Rennen. Selbst im Sommer trug sie lange Ärmel und Rollkragen, Strumpfhosen und Leggings.
Zeitgleich wurde sie immer stiller. Bald ging sie nicht mehr mit zu Einladungen. Zuerst wurde noch nach ihr gefragt, dann wurde gemunkelt, das Boris sie ja so auch nicht mitnehmen könne.
Dann schminkte sie sich nicht mehr, liess ihre Haare wachsen und sparte sich den Gang zum Friseur. Sie fing an, alles in sich hinein zu stopfen und wurde dick und dicker.
Aus der einst strahlenden, jungen Frau, war eine ungepflegte, unscheinbare stumme Puppe geworden. Sie schlief viel. duschte selten, und ging nicht mehr zum Arzt.
Ihr Mann bekam alles Mitleid, das man jungen, attraktiven, sportlichen „Sehrgutverdienern“
mit Porsche und Tagesfreizeit so macht.
Ältere Damen bekochten ihn, und handelten ihn als Schwiegersohn in spe.
Junge Damen versorgten ihn mit allem anderen, von dem sie annahmen, das er es brauchen könnte. Und er konnte.
Bei den älteren Damen wurde die Tochter zum Nachtisch gereicht, und die nette, besorgte Schwiegermutter gespielt. Bei den jungen Damen kamen Eifersüchteleien auf, und Boris wusste das alles gut zu nutzen.
Niemand sah den Teufel hinter der schönen Maske. Nur Eva sah ihn. Eva kannte ihn ganz genau. Er schlug sie nicht. Nein!
Er brach ihr Selbstvertrauen. Er war ein Seelensadist, der sich an ihrem Schmerz weidete.. Immer ausgefeilter wurden die Methoden, sie zu brechen. Er gab erst Ruhe, wenn sie zusammengerollt und weinend im Bett lag. Dann machte er sich schick für den Abend und ging. Zurück liess er ein kraftloses Bündel Mensch, das wimmernd vor Angst, auf seine Rückkehr wartete. Das er, fröhlich pfeifend, seine Kleidung durchs Zimmer warf, im Bad verschwand, um sich die fremden Gerüche abzuwaschen, und dann in ihr gemeinsames Bett kam. Einmal hatte sie versucht, sich in das Bett im Gästezimmer zu flüchten. Aber er hatte sie zurück gezerrt. Diesesmal mit körperlicher Gewalt.
Am nächsten Tag war ihr Arm rot und blau angelaufen, und als er sie auf das Bett geworfen hatte, bekam sie auch noch eine grosse Prellung an der Hüfte. Seitdem lag sie wieder Nacht für Nacht in „ihrem“ Bett wartete darauf, das er heimkam, wartete darauf, das er in seine Firma ging, wartete, wartete und wartete.
Eines Tages, beim spülen, schnitt sie sich in die Hand, mit dem scharfen Fleischmesser, das so perfekt die Salami in hauchdünne Scheiben schabte, wie er es immer wollte.
Versonnen starte sie auf das dünne Rinnsal Blut, das ihren Arm herabfloss, sich an der Fingerspitze zu einem Tropfen sammelte und mit einem leisen plopp in den Schaum des Spülmittels tropfte. „Keramik,“:dachte sie: „Man merkt den Schnitt kaum“ : und betrachtete die Muster im Schaum. Innen breitete sich eine seltsame Ruhe aus. Der Druck wurde weniger. Das gefiel ihr. Dann tropfte nichts mehr. Sie nahm das Messer und machte einen weiteren Schnitt. Es begann von vorne. Die Tropfen, die schönen, rot-weissen Muster und die Ruhe.
Der nächste Schnitt war schon tiefer. Es kam mehr Blut, und die Phase der Entspannung hielt länger. Sie hatte einen Weg gefunden, der sie beruhigte.
Spülen wurde zur Sucht. Doch bald brauchte sie kein Spülmittel mehr. Der Schmerz und dann der rote Lebenssaft reichten ihr nun. Doch es reichte nicht, es nur einmal am Tag zu tun.
Sie wartete, bis er aus dem Haus war, und holte dann das kleine Keramikmesser aus seinem Versteck. das war alleine ihres. Und so verschaffte sie sich das erstemal morgens innere Ruhe. Inzwischen hatte sie eine gewisse Routine. Sie setzte sich in einen Sessel, legte eine Wickelunterlage für Babys auf ihren Schoss, schnitt sich, sah dem Blut zu und wurde so entspannt, das sie 2-3 Stunden schlafen konnte. Traumlos und fest.
Aber nach einer Weile reichte auch das nicht mehr. Sie schnitt öfter und öfter. Danach kamen regelrechte Fressattacken und dann kurze Entspannung. Als die Arme keinen Platz mehr hatten für neue Schnitte, machte sie auf dem Schenkeln weiter.

Sie war froh, das Boris immer später heim kam. Dadurch hatte sie mehr Zeit. Es machte sie zunehmend wütend, kam er mal früher als erwartet.
In der Apotheke, wo sie Kundin war, sprach man sie eines Tages auf ihren Verbrauch von sterilen Kompressen und Verbänden an. Von da an ging sie abwechselnd in die Apotheken der Stadt. Bald drehte sich alles nur noch um die „Sache“, wie sie es vor sich nannte. Dieses „Es“, für das sie keinen Namen hatte, das ihr aber half den unerträglichen Druck zu lindern.

Boris war ihr nur noch Last. Die Angst hatte sie verloren. Nach einem heftigen Streit, in dem sie ihm eine Vase nachwarf, zog sie endgültig ins Gästezimmer. Boris konnte sie nicht mehr quälen, und er hatte nun auch keine Verwendung mehr für sie. Sie erfüllte nicht mehr ihren Zweck. Er war ein Sadist ohne Opfer.

Eines Morgens wurde sie wach, und verspürte einen Durst, als habe sie seit Tagen nichts getrunken. Sie versuchte sich aufzurichten, kippte aber sofort wieder zur Seite. Ihr linker Arm war heiss und nass. Sie schob den Schlafanzugärmel hoch, der nass und gelb und rötlich war. Der Verband war auch nass und dunkle Ränder umgaben die nassen, gelben Stoffbahnen. Vorsichtig wickelte sie den Verband ab. Darunter waren die Schnitte, die aber nun eitrig und entzündet waren. der Arm war dick und pochte heftig. Ihr wurde übel.
Wieder versuchte sie auf zu stehen. Und wieder kippte sie nach hinten weg. Sie dachte, wenn sie noch ein paar Minuten liegen blieb, würde es schon gehen.
Als sie wieder wach wurde, war es schon dämmrig. Ihr Kopf hatte die Ausmasse eines Wasserball angenommen, und war kochend heiss. Der Mund war trocken und spröde, das Schlucken fiel ihr schwer. Auch das Atmen machte ihr Mühe, und der linke Arm kochte, pochte und war so dick, das die Verbände in die Haut schnitten und es stank furchtbar nach Eiter.

Sie bekam Angst. Berichte von Menschen, die an solchen Wunden starben, schwirrten durch ihren Kopf. MRSA hiess das wohl! Sie brauchte Hilfe, das wurde ihr klar. Sie fischte das Handy vom Nachttisch und tippte auf irgendeinen Kontakt. Lesen konnte sie nichts mehr. Nebel tanzte vor ihren Augen.
2 Tage später wurde sie wieder wach. Sie lag in einem Bett mit weisser Wäsche, es war kühl und die Luft war frisch. Sie sah eine Infusionsflasche, aus der langsam etwas in ihre Vene tröpfelte.
„Britta“?: fragte sie erstaunt. Britta war einmal ihre Zugehfrau, die sie aber entlassen hatte, als sie das Haus nicht mehr verliess.
Und Britta erzählte ihr, wie der Notarzt kam, wie man sie intensiv untersuchte und behandelt hatte, bis man wusste, das sie kein MRSA hatte. Das sie aber trotzdem in einem Einzelzimmer lag damit sie sich nicht noch zusätzlich infiziere und wie das nekrotische Fleisch in einer OP weg geschnitten wurde.
Wie man ihr, Britta, Fragen gestellt hatte, aber sie keine Antworten hatte. Sie erzählte von Boris, der einmal da gewesen war, nur um ihr Wäsche zu bringen. Den Termin mit dem Psychiater hatte er nicht wahrgenommen, und auch sonst war niemand gekommen.
Also sei sie da geblieben. An ihrem Bett.
Dann kamen Schwestern, Pfleger, Ärzte, auch ein Psychiater und fragten sie allerlei. Britta schlief in dieser Nacht in dem leeren Bett.
Die nächsten Tage vergingen mit Untersuchungen und Gesprächen. Sie liess sich auf die Psychiatrie verlegen, als es ihrem Arm besser ging.
Ob sie schonmal etwas von Borderline gehört habe, fragte der Psychiater sie. Er gab ihr Broschüren und beantwortete ihre Fragen. Britta kam jeden Tag und wurde ihre Freundin.

Und nun sassen sie hier, in der neuen Wohnung, assen Döner, tranken Bier, rauchten, lachten und stöhnten. Alles hatten sie alleine gemacht und auch geschafft.
Eva hatte nie zuvor eine Wohnung gestrichen, oder einen Umzug gemacht, doch Britta konnte das alles. Eva lernte von ihr. Und sie lernte nicht nur den Umgang mit Tapeten und Farbe. Sie lernte auch wieder lachen und was Freundschaft ist. Britta war auch alleine.
Sie hatte aber 2 Kinder und es gab offenbar nichts, das sie nicht konnte.
Jede Woche ging sie mit zum Therapeuten und wartete auf sie. Nach der Kur hatte sie grosses Glück gehabt. Schon nach 4 Wochen hatte sie einen Therapieplatz. Die erste Zeit war schwer, aber nun bekamen ihre Seelenbilder wieder Farbe. Ihr war klar, das sie all das nur geschafft hatte, weil sie eine wundervolle, neue Freundin gefunden hatte, die sie immer unterstützte.

Nun stand Weihnachten vor der Tür, und damit auch ihre erste, grosse Bewährungsprobe. Britta wollte sie mitnehmen, zu ihrer Familie. Die lebten 150 Kilometer entfernt und sie würden dort in einer Pension übernachten.

Nun! Weihnachten ist die Zeit der Wunder, und nehmen wir jetzt einfach mal an, das Eva einen Weihnachtsengel namens Eike traf unterm Tannenbaum. Und das in den nächsten 4 Jahren noch 2 kleine Weihnachtsengel dazu kamen. Zuerst ein Engeljunge namens Tristan, dann ein Engelmädchen namens Melissa.
Und irgendwo auf einer kleinen, rosa Wolke sassen noch 2 Engelmädchen, die darauf warteten umzuziehen. Zu Mama Eva und Papa Eike, da unten, hinter der Grenze.

Autor:

Claudia Jacobs aus Mülheim an der Ruhr

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