Abschied

Unbegreiflich

„Mami, wie sieht es im Himmel aus?“

Luca, gerade sieben Jahre jung lag wieder in der Klinik und spürte dass es nicht gut um ihn stand, obwohl man nicht direkt mit ihm darüber redete.
Seine besorgten Eltern saßen ständig an seinem Bett, ließen ihn kaum mal allein und versuchten, ihm die Zeit in der Klinik so angenehm wie möglich zu machen. Sie begleiteten ihn zu allen möglichen Untersuchungen und sprachen ihm immer Kraft und Mut zu. Es war sehr tröstlich und hilfreich, die vertrauten Menschen um sich zu haben, das nahm ihm viel von den bangen Fragen und der Angst, die den kleinen Kerl ab und zu heimsuchte. Doch er spürte auch deutlich die Angst seiner Eltern. Die Krankenschwestern, und das gesamte Personal der Station kannte er nun schon lange Zeit. Sie waren sehr nett zu ihm und den anderen kleinen Patienten, die mit bewundernswerter Geduld, großem Mut und Tapferkeit quälende, oft schmerzhafte Untersuchungen, Tests und Therapien durchstehen mussten. Kürzlich noch hatte es so ausgesehen als sei die große Gefahr für Luca endlich gebannt, er hatte sich schon wieder auf die Schule und seine Freunde gefreut, mit denen er gern spielte. Wenn sein bester Freund Timo zu Besuch kam, hatten sie sich schon wieder Streiche ausgedacht, dabei blitzte beiden immer der Schalk aus den Augen. Oft, wenn er allein in seinem Bettchen lag und wegen der Schmerzen nicht schlafen konnte, dachte er an all die lustigen Streiche die sie schon gemeinsam ausgeheckt und ihnen viel Spaß gemacht hatten.
Kurz nach seinem 6. Geburtstag, an dem er noch fröhlich und unbefangen mit den Freunden herumgetollt hatte war er erkrankt, und man hatte schnell herausgefunden dass er an einer unheilbaren Krankheit litt. Kaum vorstellbar, dass der lebhafte, aufgeschlossene, fröhliche kleine Junge, der immer den Kopf voller Streiche hatte, so krank sein sollte. Es war ein Schock für alle gewesen; Operationen und Therapien folgten, die ihm oft schwer zu schaffen machten. An manchen Tagen wollte er das gar nicht mehr ertragen, und seine Eltern mussten alle Überredungskünste aufwenden ihn davon zu überzeugen, dass es sehr wichtig war, um wieder ganz gesund zu werden. Da er tapfer sein wollte stellte er sich seither immer vor, dass er böse Räuber verjagen oder Verbrecher bekämpfen wollte, um auf diese Weise die Guten zu beschützen. Sie sollten gewinnen, so wie auch er gegen das böse Schreckgespenst der Krankheit den Sieg davontragen wollte. Für dieses Spiel hatte er im Laufe der Zeit immer neue Varianten gefunden, um nur nicht aufzugeben.
Als es kurze Zeit so aussah als habe er die Krankheit besiegt, gegen die er so tapfer gekämpft hatte, und alle glaubten endlich aufatmen zu dürfen, kam der Rückschlag der alle Hoffnungen wieder zunichte machte. Mit dem feinen Gespür des Schwerkranken hatte er schnell bemerkt, dass die Mutter immer mit geröteten Augen ins Zimmer kam, und auch der Vater sich komisch verhielt. Wenn sein Zustand es erlaubte, versuchten sie ihn mit Spielen und Vorlesen abzulenken, damit er nicht ständig an seine Krankheit erinnert wurde. Doch oft war er so schwach und erschöpft, dass er nur apathisch und still in den Kissen lag, da er von einer ihm unverständlichen Müdigkeit überfallen wurde. Er spürte selber deutlich, dass er immer mehr an Kraft verlor, und ihn oft seltsame Fragen bewegten.
Heute wollte er die Mama fragen, ob sie wüsste wie es dort oben im Himmel aussehen würde, und ob sie mal davon erzählen könnte. Schon einmal hatte er versucht das Gespräch darauf zu bringen, da hatte er Tränen in ihren Augen bemerkt, und sie war kurz aus dem Zimmer gegangen um angeblich etwas zu holen. Danach hatte er nicht mehr gewagt das Thema anzuschneiden. Später, als Schwester Lilly mit dem wippenden roten Pferdeschwanz die Infusionen wechselte, hatte er sie gefragt. Sie hatte ihn mit großen Augen angesehen, gelacht und erwidert: "Luca, du hast ja komische Gedanken, hier unten auf der Erde ist es doch schön, und wenn du weiter so brav alle Anweisungen befolgst, wirst du wieder gesund werden und mit Timo und den anderen herumtollen."
Der Kleine war still und nachdenklich. Wieso fühlte er sich dann so ganz anders, als gehöre er nicht mehr recht hierher. Er hatte keine Erklärung, nur so ein Gefühl als ziehe es ihn irgendwo hin, wo es keine Schmerzen und Therapien mehr geben würde. Deutlich spürte er die immer größer werdende Schwäche, die ihm jede Lust auf 's Spielen nahm. Selbst wenn sein bester Freund Timo zu Besuch kam, war er schnell müde und konnte es nicht recht genießen. Sonst hatten sie gemeinsam einen Streich nach dem anderen ausgedacht, aber auch der Kleine spürte dass sein Freund Luca sehr krank war. Da er nicht mit ihm spielen konnte, weil er immer müde, schlapp und blass in seinem Bett lag, machte ihm das manchmal auch etwas Angst. Sein Freund kam ihm sehr verändert vor.
Letztens hatte der ihn tatsächlich gefragt ob er wisse wie es im Himmel sei, von Engeln geredet, das hatte Timo gar nicht verstanden, und wusste auch keine Antwort darauf. " Du stellst aber komische Fragen", hatte er gesagt. Sonst hatten sie Fußball gespielt, kl. Geheimnisse gehütet, im Baumhaus ihre Schätze versteckt, und Schiffchen auf dem See fahren lassen, und nun so etwas. Zu Hause hatte er seiner Mutter davon erzählt, die ihn mit traurigem Blick angesehen hatte, aber auch keine zufriedenstellende Erklärung geben konnte. Wenn er es recht bedachte, verhielten sich die Erwachsenen alle seltsam, wieso denn nur? Immer hatte er mit allen Fragen kommen können, und jetzt? Als Lucas Mutter am nächsten Tag ihren kleinen Sohn besuchte, spürte sie gleich, dass er heute fest entschlossen war, auf seine Fragen klare Antworten zu bekommen. Es schien unausweichlich, endlich dieses gefürchtete Thema durchzustehen. Sicher wollte sie nicht, dass der kleine Kerl sich noch zusätzlich mit Fragen herumquälte, die ihn sehr zu beschäftigen und beunruhigen schienen. Das ernste Gespräch, welches der Arzt vor dem Betreten des Zimmers mit ihr geführt hatte, hatte jeden Hoffnungsschimmer zunichte gemacht. Ihr wurde endgültig klar, dass Luca trotz aller Willensstärke und Mutes den schweren Kampf nicht noch einmal würde gewinnen können. Da half alles innere Sträuben nicht, sie mussten sich mit den Gedanken vertraut machen und akzeptieren dass der kleine Sohn sie bald verlassen würde. „Mama, was ist los, du siehst müde aus, hast du geweint? Das musst du nicht, ich bin auch ganz tapfer, alles wird wieder gut.“ Die ermunternden Worte des todkranken Jungen trieben der Mutter wieder Tränen in die Augen. "Nein, mein Schatz, mir ist nur eben eine Fliege ins Auge geflogen", lenkte sie ab. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass der Kleine unbewusst längst spürte dass die Zeit ablaufen würde. Das Thema "Himmel" schien unumgänglich. Sie wollte stark sein für den Kleinen, es ihm leichter machen, auch wenn es ihr das Herz zerreißen würde. Sie hielt die kleine Hand die blass und schmal in der ihren lag. Luca war ganz ruhig und voller Vertrauen, weil seine geliebte Mama bei ihm war. Dann ließ sich alles leichter ertragen, und er war ziemlich überzeugt, dass sie nun bereit war für seine drängenden Fragen. So geschah es, dass sie im dämmrigen Licht des Zimmers in stiller Zweisamkeit das Gespräch führten, das schon lange in Luca bohrte.“ „Bitte Mama, erzähl mir heute wie es im Himmel aussieht!“ Tapfer schluckte sie neu aufsteigende Tränen hinunter und erzählte ihrem kleinen Sohn, dass es dort oben nur strahlendes Licht geben würde, keine Dunkelheit, keine Schmerzen, und es dort jedem gut ginge“. Gibt es dort auch Engel, oder gar kleine Kobolde? “, fragte der Kleine leise kichernd. Sie merkte welche Mühe ihm das Sprechen bereitete, wie sehr es ihn anstrengte. Der Mutter fiel es sehr schwer Antworten zu geben, schöne, friedliche Bilder zu malen die ihm die Angst nehmen würden. Neugierig und mit fragenden Augen hing der Kleine an ihren Lippen. Die dunklen Augen in dem blassen schmalen Gesichtchen wirkten unnatürlich groß im gedämpften Licht des Zimmers. Der Blick schien weit entfernt, als schaue er in eine andere Welt. Ein seltsam fremder Ausdruck lag auf seinem Gesicht, und doch ging ein glückliches Strahlen von ihm aus. Er schien ohne Angst dem zu lauschen, was sie ihm so anschaulich schilderte.“ "Mehr, erzähl mehr Mama, dort scheint es richtig schön zu sein.“ So erfand die geplagte Mutter Geschichten vom Ringelreihen kleiner Elfen die auf sanften Mondhügeln und Wiesen mit Mondkälbchen auf Schäfchenwolken um die Wette tanzen, von kleinen Kobolden die wie er und Timo Streiche aushecken, und es schien als würde Luca sich immer mehr in diese bildhafte Erzählung hinein versetzen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass ihm diese unbekannte Welt gefiel. Er lauschte mit vergnüglichem Gesichtsausdruck und hing weiter wie gebannt an Mutters Lippen. Zeitweise schien er mit seinen Gedanken weit fort zu sein, doch ein seltsames Leuchten lag über dem schmalen Gesicht, es wirkte entspannt und friedlich. „Mama, und die Engel und die vielen Sterne“ wollte er wissen? „ Die Engel beschützen alle Kinder die dort wohnen und geben acht, dass ihnen kein Leid geschieht. Du weißt ja, dass auch hier jedes Kind einen Schutzengel hat. Die Sternenkinder spielen auf der Milchstraße und benutzen die Schweife der Sternschnuppen als Rutsche“, sagte die Mama „und wenn sie müde geworden sind, ruhen sie sich auf einer weichen weißen Wolke aus.“ Diese Vorstellung schien ihm zu gefallen. „Das ist ja fast, als wenn ich mit Timo Abenteuer erlebe“, meine der kleine Kranke mit ungewohnter Lebhaftigkeit. „Du musst ihm unbedingt von diesem besonderen Spielplatz erzählen, dann will er sicher auch mal dorthin.“ Der Satz schien seine Mutter sehr zu erschrecken, doch das war ihm nicht bewusst, er fand es spannend zu hören wie es dort zugehen sollte. Die Mutter nahm den Kleinen vorsichtig in ihre Arme, und schaute mit ihm gemeinsam dem Mond zu der mit seinem milden, silbrigen Licht gerade zum Fenster hereinsah. So war sie ihrem Kind ganz nah, und konnte gleichzeitig die aufsteigenden Tränen verbergen. Könnte sie ihn doch immer halten und beschützen. Wie lange würde sie noch die Wärme des zerbrechlichen kleinen Körpers spüren?
Luca schien plötzlich sehr müde zu sein von all den märchenhaften Schilderungen die er gerade vernommen, und denen er angestrengt und aufmerksam gelauscht hatte. Er bat die Mama nun heimzugehen, und den Papa, der heute morgen bei ihm gewesen war, Timo und alle die er sehr lieb hatte, ganz herzlich zu grüßen. „Nun möchte ich schlafen, ich bin sehr müde, Flauschi ist ja bei mir.“ Das war sein kuscheliger Teddy, von dem er sich seit jüngsten Kindertagen nie getrennt hatte. „Geh ruhig heim, mach dir keine Sorgen, ich werde träumen von den Engeln, Mondkälbchen, Sternenkindern und lustigen Kobolden, und schau wie schön der Mond ausschaut mit seinem runden Gesicht.“ Schweren Herzens folgte die Mutter dem Wunsch des Kleinen, der wahrhaft sehr erschöpft, aber glücklich schien. Er brauchte all seine Kraft, also sollte sie ihm dem friedlichen Schlummer gönnen, zudem war es recht spät geworden.
„ Gut, mein Kleiner, schlaf schön, wir haben dich auch alle sehr lieb. Morgen früh komme ich mit Papa wieder " sagte sie, als sie sich noch einmal zu der schmalen Gestalt in dem Bettchen umblickte. Sie winkte ihm zärtlich zu, und schenkte ihm noch eine Kusshand, ehe sie behutsam die Türe schloss. Es war ein eigenartiger Blick gewesen, den ihr der kleine Sohn geschenkt hatte als er sagte: “ Ich hab euch auch alle sehr lieb, sag das allen, das darfst du nicht vergessen!“ Er schien glücklich darüber, dass sie nun heimging. Das seltsame Leuchten in seinen großen, tief liegenden, dunkel umschatteten Augen beunruhigte sie, doch sie folgte seinem Wunsch.
Eine halbe Stunde später betrat die junge Krankenschwester das Zimmer, um noch einmal nach dem kleinen Patienten zu schauen, den sie auf der Station alle ins Herz geschlossen hatten.Lächelnd lag er da in seinem Bettchen, Flauschi in dem einen Arm, den anderen ausgestreckt in Richtung des Mondes. Ein friedlicher, glücklicher Ausdruck lag auf dem kleinen stillen Gesicht. Im sanften Strahl des silbrigen Mondlichts war er still auf die Reise gegangen zu den Engeln und Sternenkindern.

Autor:

Evelyn Gossmann aus Mülheim an der Ruhr

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