Mobilitäts- und Verkehrswende:
Was wir von anderen Ländern lernen können

Foto: Bahnhof von Nimes (Südfrankreich)

RUHRGEBIET. Stellen Sie sich vor, Sie erleben im Jahre 2022 im Hauptbahnhof einer Ruhrgebiets-Stadt mit ca. 150.000 Einwohnern (etwa vergleichbar mit Recklinghausen, Herne, Bottrop oder Mülheim) folgendes Szenario: Eine blitzsaubere und einladend gestaltete Bahnhofshalle mit hoher Aufenthaltsqualität, komfortablen Sitzgelegenheiten und Warteräumen, großzügigen Service-Schaltern, gepflegten kostenlosen Toiletten, einladenden Cafés und Ladenzeilen, Schalter von Leihwagenfirmen wie am Flugplatz, Wasserspendern für die Trinkflaschen und ständige Präsenz von Sicherheitskräften. Und an Terminals kann jeder Bahnkunde sogleich ein Kundenfeedback zu seinen Eindrücken vom Bahnhof mitsamt Verbesserungsvorschlägen eingeben. An einem Piano in der Eingangshalle werden Sie mit Klaviermusik empfangen. Auch das Bahnhofsumfeld ist ringsum einladend für Fußgänger mit hoher Aufenthaltsqualität auf großzügigen Plätzen und Promenaden.

Das Wichtigste: Auf den zahlreichen elektronischen Hinweistafeln ist keine Zugverspätung angezeigt, da sämtliche (blitzsauberen und komfortablen) Regional- und Fernzüge in allen Richtungen und in dichter Taktfolge pünktlich und nicht überfüllt sind. Auf die Bahnsteige ohne Graffitis gelangt man nur mit gültigen Fahrkarten durch freundlich kontrollierende Bahnmitarbeiter, so dass keine Unbefugten dort herumlungern. Am Busbahnhof direkt am Hintereingang des Bahnhofs hat jeder einzelne Bahnsteig überdachte Sitzplätze und umfassende Fahrpläne. Die modernen Busse sind klimatisiert und haben eine Klappe für Fahrrad-Mitnahme, eine regionale Strecke kostet 1,50 € (ermäßigt 0,90 €) auch bei 30 bis 40 km Entfernung. (Fernbusse zwischen den großen Metropolen des Landes bewegen sich zwischen 19 € und 35 €). Zumeist gibt es separate Busspuren in den Städten.

Träumerei? Nein, Wirklichkeit in unseren Nachbarländern wie Frankreich mit seiner staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF, die den kompletten Schienenverkehr betreibt, sowie den Zusammenschluss der öffentlichen Bus- und Nahverkehrsunternehmen ohne Gewinnerwartung..

So erlebt in diesem Sommer in der südfranzösischen Stadt Nimes, aber auch ähnlich in anderen großen Städten des Nachbarlandes zu besichtigen. Dazu das Kontrastprogramm im Ruhrgebiet, wie zum Beispiel der trostlose Hauptbahnhof von Wanne-Eickel, einstmals eine Großstadt über 100.000 Einwohner und Knotenpunkt des Bahnfernverkehrs: Dunkel, schmutzig, unwirtlich, geschlossene Läden, Graffitis, dunkle Gänge, angsteinflößende Gestalten, kaum Sitzgelegenheiten, eine Toilette gibt es wohl nur noch bei MacDonalds - und ständige Anzeigen von verspäteten oder ausfallenden Zügen auf den heruntergekommenen Bahnsteigen, zum Leidwesen der Berufspendler und Fernreisenden gleichermaßen.

Nicht viel besser im Hauptbahnhof der stolzen Kreishauptstadt Recklinghausen (114.000 Einwohner): Keine Sitzbänke mehr in der Eingangshalle, kein Warteraum, eine schmuddelige Toilette fernab im dunklen Parkhaus unter dem Busbahnhof - und ebenfalls die Anzeigen mit Verspätungen und Zugausfällen. Im Hauptbahnhof der Großstadt Mülheim an der Ruhr (171.000 Einwohner) hat man schon vor längerem den Service-Schalter dichtgemacht, ebenso in anderen Bahnhöfen des Ruhrgebietes. Beste Voraussetzungen für eine Mobilitätswende auch in Deutschland? Hier hat die Bahn-AG mit ihrer Privatisierungs- und Aufspaltungstendenz den erfolglosen Bahnvorstand mit abgehalfterten Parteipolitikern und einem umstrittenen ehemaligen Gewerkschaftsfunktionär besetzt sowie eine qualifizierte Stellenbesetzung mit einem erfahrenen Bahnmanager der erfolgreichen Schweizer Staatsbahn neulich verhindert….

Vorbildlich auch im Straßenverkehr

Bereist man Frankreich mit dem Auto, so erlebt man auch im Straßenverkehr Vorbildliches: Fast sämtliche Ortsdurchfahrten sind Tempo-30-Zonen, auf den Landstraßen gilt Tempo 80 km/h, auf den Autobahnen Tempo 130 als Höchstgeschwindigkeit, streckenweise auch nur 110 km/h, ebenso auf Schnellstraßen. Das erlaubt ein sehr entspanntes Fahren auch bei dichterem Verkehrsaufkommen. Auf einigen Autobahnabschnitten wird zwar eine Maut-Gebühr für alle Fahrzeuge erhobenen, dafür sind die Straßen durchweg in gutem Zustand und kaum durch Baustellen behindert.

In kurzen Abständen von etwa 20 km befindet sich ein dichtes Netz von Autobahnraststätten mit ausreichenden und getrennten Parkplätzen für PKW und LKW, die sich nicht gegenseitig behindern. Die meisten Raststätten mit gepflegter Gastronomie und Ladenzeile haben kostenlose und saubere Toiletten und sind mit einem großzügigen grünen Außenbereich mit Tischen, Bänken und Spielplätzen als Picknick- und Erholungszone versehen, etwas abseits des Autobahnlärms. Fast jede Raststätte hat eine Vielzahl von Elektro-Ladesäulen und an den Sprit-Tanksäulen kann auch direkt mit Karte bezahlt werden, so dass die Wartzeiten entfallen, bis der Vordermann aus dem Kassenraum zurückgekehrt ist, um den Platz an der Tanksäule frei zu machen.

Radverkehr und Fußgänger im Blick

In vielen Städten und Dörfern Frankreichs werden inzwischen auch für die Radfahrer großzügige breite Radwege oder Fahrrad-Vorrangstraßen angelegt und sehr fußgängerfreundliche Innenstädte ausgebaut mit Parkplätzen außerhalb am Stadtrand. Wer in früheren Jahren die weit verbreitete Mentalität der Franzosen kennengelernt hat, möglichst viel und nah an ihr Fahrziel mit dem Auto heranzufahren, erlebt nun einen Vorsprung und Lernprozeß derer, die uns inzwischen bei der Mobiltäts- und Verkehrswende deutlich überholt haben. (Einziges Manko: Auch in Frankreich hat sich die Vorliebe für SUV und Geländewagen inzwischen ausgebreitet, so dass sich die überdimensionierten Spritfresser auf den oftmals schmalen Straßen in den historischen Dörfern, den engen Alleen und in der übrigen Landschaft der Provinzen platzergreifend ausweiten. Hier sollte die Politik den Verlockungen durch die Autoindustrie und deren Lobby Einhalt gebieten.)

Insgesamt lohnt sich jedenfalls ein Blick über den Zaun in die Nachbarländer, um sich gegenseitig anzuspornen bei der in ganz Europa überfälligen Mobilitäts- und Verkehrswende. Der Irrglaube, dass Deutschland hierbei Vorreiter oder gar Vorbild sei, ist nicht haltbar. Vielleicht sollten sich politische Entscheidungsträger mal mit einem Bus in die Nachbarländer begeben, um hier „Best-Practice-Modelle“ aus eigenem Erleben anzuschauen? Nicht zuletzt ist ein Vielfaches an öffentlichen Geldern in die Hand zu nehmen, um die Verkehrsvorhaben zu beschleunigen und den nicht nur beim Tempolimit (das von 70% der Bevölkerung laut Umfragen gewollt ist) stur bremsenden FDP-Verkehrsminister auf die Spur zu bringen, sonst blicken wir auch noch in 20 Jahren neidvoll auf unser Nachbarland Frankreich.

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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