Wilhelm Neurohr: Offener Brief an EU-Parlamentspräsident Martin Schulz zum TTIP-Debakel im EU-Parlament

Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident Schulz,

noch allzugut habe ich Ihre progressiven Aussagen als SPD-Spitzenkandidat aus dem Europa-Wahlkampf 2014 vor Millionenpublikum zur Demokratie in Europa im Allgemeinen und zu TTIP im Besonderen im Ohr.

Trotz der von Ihnen selber beklagten Demokratie-Defizite der EU und der extrem niedrigen Wahlbeteiligung von 43% tragen Sie nun - neuerdings als Träger des Aachener Karlspreises"für Ihre Verdienste" um Europa - alles dazu bei, den Demokratie-Abbau und damit die Europa-Skepsis der Bevölkerung noch zu verstärken.

Mit ihrer fadenscheinigen juristischen Begründung, mit der Sie am 10. Juni als Parlamentspräsident die Debatte und Abstimmung im EU-Parlament zur TTIP-Resolution "vertagt", d. h. verhindert haben, erweisen Sie sich einmal mehr - zusammen mit ihrem Partei-Vorsitzenden Gabriel und dem konservativen EU-Kommissionspräsidenten Juncker (der einen Bertelsmann-Lobbyisten als seinen obersten Kabinetts-Chef walten läßt) - als Lobbyist pro TTIP statt als Sachwalter der Bürgerinteressen.

Offenbar sind Ihnen die persönliche Freundschaft zu Juncker und opportunistische Interessen Ihrer "großen Koalition" in Straßburg wichtiger als eine offene Diskussionskultur im EU-Parlament, wenn diese nicht im Sinne der EU-Kommission, der Nationalregierungen, der großen Berliner Koalition oder der Brüsseler Lobbyisten funktioniert. Das zeigte sich schon bei Ihrer Verhinderung eines Untersuchungsausschusses zu dem Luxleaks-Skandal.

Damit haben Sie der Demokratie in Europa und der Bedeutung des Schein-Parlamentes einen schweren Schaden zugefügt und sollten daraus die Konsequenzen ziehen.

Persönlich bin ich im Nachhinein froh, dass Sie im Wahlkampf keine Mehrheit für Ihre eigenen Ambitionen auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten erhalten haben. Da passt Herr Juncker als Mitverantwortlicher für den LuxLeaks-Skandal (und nach seinem Rüktritt als Luxemburger Premierminister wegen der Geheimdienstaffäre) schon besser in die Führungsriege. Deren ausgewechselten Kommissare (von Frau Reding als Kommission-Vizepräsidentin über Herrn Barroso bis hin zum Handelskommissar Karel de Gucht und dem Umweltkommissar Potocnik, früher auch der deutsche Kommissar Verheugen) haben sich ja alle ohne Karenzzeit als Seitenwechsler zur Wirtschaft und damit als Lobbyisten entpuppt.
Darf man gespannt sein, wohin sich Herr Schulz nach der Halbzeit der Parlamentsperiode orientieren wird?

Es wäre hilfreich, wenn Sie ihre eigene Haltung zu den Schiedsgerichten und zu den anderen Problempunkten von TTIP, CETA und TiSA endlich einmal öffentlich, eindeutig und unmissverständlich erklären würden - oder teilen Sie etwa auch die Auffassung von Frau Merkel und der Bundesregierung (laut Homepage-Eintrag vom 11. Juni), dass die TTIP-Verhandlungen zu beschleunigen und bis zum Jahresende 2015 in den Grundzügen stehen sollen? Und sind sie ebenso "froh" wie Frau Merkel, dass es US-Präsident Obama geschafft hat, vom Kongress ein "Fast-Track-Verfahren" bekommen zu haben, mit dem sichergestellt ist, dass der Kongress ein von der Regierung ausgehandeltes Freihandelsabkommen nicht nachträglich ändern kann....?

Bitte beantworten Sie der Öffentlichkeit die Frage, ob Sie dergleichen auch in Bezug auf das EU-Parlament anstreben und ob Ihre undemokratische Maßnahme vom 10. Juni bereits ein Vorgriff darauf sein sollte?

Mit enttäuschten Grüßen

Wilhelm Neurohr

→ http://www.Wilhelm-Neurohr.de
→ http://www.iwipo.eu

Autor:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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