Epidemie
Eine ungeschriebene Geschichte: Die Spanische Grippe in Unna

Der Leiter des Stadtarchivs Unna, Frank Ahland, hat die Akten und Unterlagen aus Unna durchforstet. | Foto: privat
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Ähnlich wie aktuell die Coronavirus-Pandemie hat in den Jahren 1918/19 die Spanische Grippe weltweit die Menschen heimgesucht. Auch für das Coronavirus gibt es bislang kein Heilmittel, doch die Medizin hat zumindest Möglichkeiten zur Behandlung. Zur Zeit der Spanischen Grippe war noch nicht einmal deren Erreger der Wissenschaft bekannt.

Genau wie heute versuchte man auch damals der Krankheit mit Versammlungsverboten und der Schließung von Gaststätten und Schulen Herr zu werden. Doch wie genau zeigte sich das Bild der Grippe im Kreis Unna? Wie viele Menschen starben dort an der Epidemie?

Der Leiter des Unnaer Stadtarchivs, Frank Ahland, hat die Dokumente der Zeit durchforstet, konnte dabei aber in den Akten zur Stadt Unna und zum Amt Unna-Kamen, das die heute eingemeindeten Orte umfasst, nichts zur Spanischen Grippe finden. „Auch nicht in den Verwaltungsberichten, ebenso in der Literatur, selbst zu den beiden Krankenhäusern finden sich keine Niederschriften.“
Immerhin gibt es eine Statistik zu den Todesursachen aus den Jahren 1914-1925 aus dem Verwaltungsbericht für diesen Zeitraum. Da es sich jedoch um Jahreswerte handelt und die Kategorien wie Krankheiten der Atmungsorgane recht umfassend und wenig spezifisch sind, sei die Statistik wenig aussagefähig, so Ahland.

Etwas mehr Aufschluss gibt jedoch das Beerdigungsbuch für den Südfriedhof in Unna für die Monate August 1918 bis Juli 1919. „Es enthält zwar keine Todesursachen und auch keine genauen Sterbedaten, jedoch sind sie nach Monaten sortiert, was aufgrund der schieren Zahlen direkte Rückschlüsse auf die Spanische Grippe zulässt. Es findet sich ein überaus deutlicher Peak für Oktober/November 1918 und ein schon sehr viel kleinerer im März 1919. Das stimmt mit den weltweit beobachteten Mortalitätskurven überein“, erklärt der Stadtarchivar.

„Da die Angaben im Beerdigungsbuch zudem das Alter der Gestorbenen nennen, hat Ahland die Angaben in jenen Altersgruppen erfasst, wie sie Wikipedia im Artikel zur Spanischen Gruppe im Diagramm zur Altersverteilung nennt. „Es zeigt sich jene für die Spanische Grippe typische statistische Anomalie, wonach jüngere Erwachsene zwischen 15 und 44 überdurchschnittlich und jene zwischen 25 und 34 Jahren extrem stark betroffen sind. Dagegen sind ältere offenbar kaum an der Spanischen Grippe erkrankt, jedenfalls ist ihre Sterblichkeit nicht erhöht.“

Auch im Hellweger Anzeiger dieser Jahre häufen sich im Oktober/November 1918 die Todesanzeigen. Meist heißt es, die Betreffenden seien nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Am 7.11.1918 finden sich zwei Todesanzeigen nebeneinander, beide Personen sind infolge Lungenentzündung gestorben, der eine im Feldlazarett in Frankreich, im anderen Falle sind offenbar Angehörige einer Familie in Unna an der Spanischen Grippe gestorben. Die Kürze des Ablaufs von den ersten Symptomen bis zum Tod und auch die Komplikation Lungenentzündung sind typisch für die Spanische Grippe.

Die Krankheit wurde verschwiegen, und dafür gab es gleich mehrere Gründe: „Die Bevölkerung war gegen Ende des Ersten Weltkriegs geschwächt und kriegsmüde, man wollte die Leute nicht noch weiter verunsichern“, das sagt Heinrich Behrends, der für Kamen und Umgegend über die Spanische Grippe geforscht hat.

In seinem Buch „Burgmannen, Bürger, Bergleute; Eine Geschichte der Stadt Kamen“ beschreibt der Heimatforscher Klaus Goehrke: „Immer mehr Menschen, besonders Kinder, litten an Mangelerkrankungen. Die Steckrübe wurde als Hauptnahrungsmittel berüchtigt. Karl Goll vermerkte: “Mit Grauen denke ich an das ‚Steckrübenjahr‘ 1917 zurück. Außer Wasser in den Beinen und Gewebeverfall grassierte die ‚spanische Grippe‘. So hatte man uns damals die Krankheit ‚beigebracht‘. Der Volksmund aber sagte: ‚Hungertyphus‘. Die Mädchenschule musste zwei Wochen lang geschlossen werden, wegen der besonderen Gefährlichkeit der Grippe für das weibliche Geschlecht.“ Die kann sicherlich auch für den benachbarten heutigen Kreis Unna gelten.

Auch für Kamen, Bergkamen und Bönen gibt es ebenso wie im Kreis Unna keine Statistik, keine verlässlichen Zahlen zu den Todesopfern. Auch wie viele Soldaten aus der Gegend letztendlich an der Spanischen Grippe gestorben ist, ist unbekannt: „Es ist gut möglich, dass insgesamt mehr Soldaten an der Front durch die Grippe gestorben sind als durch Waffengewalt.“

Kleine Meldungen mit Infos über die „Spanische Krankheit“ hat Behrends hier und da in der Kamener Presse gefunden. „Man wusste damals noch nicht, was ein Virus ist, und wie die Krankheit verläuft.“ Deutschland befand sich am Ende des Ersten Weltkriegs, viele Nachrichten wurden zensiert, auch in anderen Ländern. Spanien, das nicht am Ersten Weltkrieg beteiligt war, berichtete relativ offen und unzensiert über die neue Seuche, die deshalb die Spanische Grippe genannt wurde.

Ihren Ursprung nahm die schlimmste Pandemie der Neuzeit aber vermutlich in Kansas in den USA. „Heute wissen wir, dass sich ein dem Schweinegrippe-Virus ähnliches Influenza-Virus des Typs A und des Subtyps H1N1 gebildet hat, und zwar durch die Verbindung eines Vogelgrippe-Erregers mit einem menschlichen H1-Virus. Dieses Virus breitete sich, vermutlich durch die Übertragung von einem Rind auf den Menschen in den USA rasend schnell aus, vor allen Dingen in der amerikanischen Armee, die dann Anfang 1918 den Erreger mit nach Europa brachte.“

Die Spanische Grippe wütete in drei Wellen in Europa. Die erste Welle traf Deutschland ab Mai 1918, verlief aber relativ glimpflich. Die zweite erreichte Deutschland ab September 1918 und war deutlich aggressiver. Die Erkrankungen im Herbst 1918 fielen besonders schwer aus. Heute nimmt man an, dass sich das Virus bereits in kürzester Zeit genetisch verändert hatte und das Immunsystem der Betroffenen vor besondere Herausforderungen stellte: Die Betroffenen litten unter hohem Fieber, rasenden Kopf-und Gliederschmerzen. Schwerkranke bluteten aus Nasen und Ohren und spuckten Blut. Aus Sauerstoffmangel liefen sie blau an. Die Medizin stand der Krankheit hilflos gegenüber: Viren wurden erst im Jahr 1933 entdeckt, man glaubte, dass es sich bei dem Erreger um einen Bazillus handelte.

Man kann davon ausgehen, dass etwa 2,5 Prozent der Infizierten starben. Weltweit können das zwischen 22 und 50 Millionen Menschen gewesen sein. Die Infektionsrate war in Deutschland sehr unterschiedlich. Es gab Regionen, die besonders betroffen waren, in denen jeder dritte Einwohner infiziert war, etwa in der Gegend um Mönchengladbach, Schleswig oder Breslau.

Autor:

Lokalkompass Kamen/Bergkamen/Bönen aus Kamen

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