Es gibt keine Mehrzahl von "Heimat" - oder doch?

Werner Flack, Dr. Bärbel Beutner und Bruno Romeiks (v.l.) sind Flüchtlingskinder. Zwischen Herbst 1944 und Januar 1945 verließen sie mit ihren Familien ihre Heimat Ostpreußen. Das hat tiefe Wunden hinterlassen.
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  • Werner Flack, Dr. Bärbel Beutner und Bruno Romeiks (v.l.) sind Flüchtlingskinder. Zwischen Herbst 1944 und Januar 1945 verließen sie mit ihren Familien ihre Heimat Ostpreußen. Das hat tiefe Wunden hinterlassen.
  • hochgeladen von Elke Böinghoff

Frühling 1945, der Krieg ist zu Ende und Millionen von Flüchtlingen, Vertriebenen und sogenannten „displaced people“ (zum Beispiel ehemalige KZ-Häftlinge, Wehrmachtssoldaten etc.) drängen nach Deutschland. Es werden insgesamt um die 24 Millionen Menschen sein, die bis Anfang der 50er Jahre eine neue Heimat in West- und Ostdeutschland finden müssen. Doch geht das überhaupt – eine zweite Heimat finden?

„Es gibt schon im Sprachgebrauch keine Mehrzahl von Heimat – und genau so ist es auch“, ist Werner Flack überzeugt. Der Unnaer wurde 1944 in Schellen im Kreis Rößel in Ostpreußen geboren. Gemeinsam mit seiner Familie – der Vater war noch Soldat in der Wehrmacht – floh er im Januar 1945 vor den anrückenden Russen. Über Schleswig-Holstein kam er im Sommer 1945 in Unna an. „Wir hatten auf der Flucht alle unsere Papiere und Fotos verloren, umso mehr erzählte unsere Mutter immer von zu Hause“, erinnert sich der heute 71-Jährige.

Und schuf so bei den Kindern ein Heimatgefühl „zweiter Hand“. „Dazu kam, dass wir uns hier in den ersten Jahren überhaupt nicht willkommen gefühlt haben“, erzählt Flack. Die Familie wurde bei einem Bauern einquartiert, der die Flüchtlinge über dem Schweinestall in einer kleinen Kammer kampieren ließ. In der Schule wurde Werner Flack, obwohl als Deutscher im Deutschen Reich geboren als „Pollacke“ beschimpft. Die ganze Familie litt Hunger, weil es kaum finanzielle Unterstützung oder Arbeit gab. So gewöhnte sich Werner Flack schnell an, sich möglichst nicht als Flüchtling zu erkennen zu geben. Da war die Sehnsucht nach der „heilen Welt“ in Ostpreußen natürlich groß, „und meine Eltern haben auch wirklich geglaubt, eines Tages zurückkehren zu können, das wurde uns von der Politik auch so eingeredet“, so Flack.

Das kann Bärbel Beutner nur bestätigen. Ihre Familie hatte sich am 23. Januar auf die Flucht aus Königsberg begeben. Geboren ist Bärbel Beutner am 27. Januar. Im Februar 1947 erreichten die Beutners Unna – „hier bin ich zu Hause – und habe Heimweh.“

Denn auch in ihrer Familie wurde die Erinnerung stets wachgehalten. Vor allem der Vater engagierte sich stark im Bund der Vertriebenenund der Landsmannschaft Ostpreußen. „Ich selbst habe ja gar keine Erinnerungen an Ostpreußen, trotzdem war für mich mein erster Besuch in Ostpreußen wie ein ‚nach Hause kommen‘, erinnert sich Bärbel Beutner, die heute Vorsitzende des Unnaer Kreisverbandes des Bund der Vetriebenen ist.

„Auch meine Eltern wollten anfangs wieder zurück, spätestens 1974 mit der Unterzeichnung der Ost-Verträge war aber klar, dass das nicht mehr kommen wird“, erzählt Bärbel Beutner. Ganz klar war aber von Anfang an, dass es auch bei einer eventuellen Rückkehr niemals um eine „Rückeroberung“ geben würde, „das ist auch so in der Charta der Vertriebenen ganz klar ausgedrückt“, so Beutner.

Bruno Romeiks erlebte die Flucht als Teenager. 1933 geboren hat er sehr lebhafte Erinnerungen an seine ostpreußische Heimat. Trotzdem fühlt er keinen Groll gegenüber den russischen Eroberern. „Was die Deutschen den Russen angetan haben, war noch viel schrecklicher“, findet er. Und trotzdem – berichtet Bruno Romeiks über seine Flucht, kommen ihm die Tränen. Zu präsent sind noch die Erlebnisse der Flucht und der Zeit der Internierung in Mohrungen/Ostpreußen. In Unna kam Bruno Romeiks 1948 an, wo er dann eine Ausbildung zum Bergmann machte. „Die Kameradschaft unter Tage war groß, da gab es keine Ausgrenzung“, erinnert sich Bruno Romeiks.

Mit dem Fall des Eisenern Vorhangs kehrten die drei Ostpreußen, die längst in Unna fest verwurzelt sind, Anfang der 90er Jahre für Besuche „zurück“ in ihre Heimat. „Es war alles so vertraut“, staunt Bärbel Beutner noch heute über ihre damaligen Gefühle. Inzwischen sind Besuche in Ostpreußen zur Routine geworden. Es wurden Freundschaften geschlossen, auch mit den neuen Bewohnern der ehemaligen Zuhause. Bärbel Beutner engagierte sich für die Renovierung der alten Dorfkirche. Erzählen die Drei von ihren Besuchen in Ostpreußen, ist da keine Bitterkeit zu spüren, ganz im Gegenteil. „Wir sind doch dankbar, dass wir hier in Unna leben, wirklich zurück möchte kaum jemand, das wäre alles viel zu beschwerlich“, gibt Werner Flack unumwunden zu.

Parallelen zu heute

Worum es aber geht ist die Anerkennung, dass den Flüchtlingen und Vertriebenen die Heimat genommen wurde. Und hier gibt es Parallelen zur aktuellen Situation. „Die Leute sehen die Flüchtlinge und machen sich nur Sorgen, dass sie sich selber einschränken müssten. Die menschlichen Schicksale dahinter sieht kaum jemand“, ärgert sich Werner Flack. „Wir wissen, wie traumatisch so eine Flucht ist und dass man sein Leben lang darunter leidet, das muss einfach mehr in den Fokus rücken“, findet Bärbel Beutner.

Nach dem Krieg hat Deutschland über 24 Millionen Menschen aufgenommen, das Land lag in Schutt und Asche. Seit 1990 wurden rund 3,5 Millionen Asylanträge gestellt, zwischen Januar und September 2015 waren es 303.443.

Autor:

Elke Böinghoff aus Unna

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