Michael Wildenhains Roman „Die Erfindung der Null“
Aus der Bahn getragen

„Manche Menschen wirken auf den ersten Blick wie Verlorene. Als hätte ein Ereignis in ihrem Leben sie aus der Bahn getragen und als hätten sie trotz aller Bemühungen nicht wieder Fuß gefasst“, lautet der einleitende Satz im neuen Roman des Alfred-Döblin-Preisträgers Michael Wildenhain.

Spannend und rätselhaft wie einen Krimi hat der inzwischen 62-jährige Berliner Autor sein neues ambitioniertes Erzählwerk angelegt. Im Mittelpunkt steht der promovierte Mathematiker Martin Gödeler, dem in jungen Jahren eine große akademische Karriere prognostiziert worden war. Doch das verkannte Genie ist an einigen Weggabelungen seines Lebensweges offensichtlich falsch abgebogen und am Ende als Nachhilfelehrer „lebendig begraben in Stuttgart“ gelandet. Dort sitzt er in einem Verhörraum einem Staatsanwalt gegenüber, der ihn des Mordes bezichtigt. Ihm wird vorgeworfen, dass er eine Frau während eines Südfrankreich-Aufenthalts umgebracht haben soll.
Doch das Verhör entgleitet dem Juristen, Gödeler geht nicht auf die Vorwürfe ein, sondern erzählt in ausschweifenden Wortkaskaden aus seinem Leben. Von Umzügen zwischen Berlin und Hamburg, von seiner beinahe ekstatischen Begeisterungsfähigkeit sowohl für die Geheimnisse der Mathematik als auch fürs weibliche Geschlecht und speziell für Frauen mit Faible für komplizierte naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Da gab es zum Beispiel eine enge Beziehung zu einer heißblütigen Antifaschistin namens Elisabeth Lucile Trouvé, die nach einem Anschlag auf die Siegessäule im Untergrund und damit aus Gödelers Leben verschwand.
Was hat das alles mit dem Verschwinden jener Susanne Melforsch zu tun, die offensichtlich nicht nur in jungen Jahren Gödelers Schülerin, sondern später auch seine Geliebte gewesen ist? Warum lief das Verhör völlig aus dem Ruder und ließ den Staatsanwalt als beinahe passiven Zuhörer zurück?
Am Ende kommt Gödeler aus der Untersuchungshaft in Stammheim frei, und es bleibt nicht viel mehr zurück als ein opulentes Bündel Papier, das nicht Verhörprotokoll, sondern Lebensbeichte war.
Michael Wildenhain, der selbst umfassende naturwissenschaftliche Studien hinter sich hat, arbeitet mit einem komplexen theoretischen Überbau, mit einer Art philosophischen Versuchsanordnung, die schon in den Kapitelüberschriften zum Ausdruck gebracht wird. „Induktionsannahme“, „Induktionsverankerung“, „Induktionsschritt“, „Lemma“, „Gegenprobe“. Der Roman hätte auf diese formale, bildungsbürgerliche Etikettenkleberei verzichten können. Sie sorgt allenfalls für zusätzliche (ungewollte) Irritation nach der ebenso spannenden wie rätselhaften Lektüre.
Leidenschaftliche Erotik und kühle naturwissenschaftliche Logik flanieren hier oft nebeneinander Hand in Hand im erzählerischen Gleichschritt. Sprachlich hat Michael Wildenhain allerdings unübersehbare Probleme mit diesem anspruchsvollen Spagat zwischen Sinnlichkeit und Kühle. Das liest sich dann bisweilen ziemlich ungelenk: „Der Formalismus, erwidere ich, küsse den fast unsichtbaren Flaum am Ansatz ihrer auf mich eigentümlich opak wirkenden Brüste, verweigert sich jeder Postulierung.“ In diesem Roman wäre in mehrerlei Hinsicht weniger mehr gewesen.

Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020, 295 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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