Patrick Hofmanns Roman „Nagel im Himmel“
Die Zahlen waren immer da

„Er hielt es für möglich, die Riemannsche Vermutung zu beweisen, ohne den eigenen Beweis verstehen zu können, was natürlich seltsam und gewissermaßen beleidigend gewesen wäre, aber vielleicht gar nicht so abwegig“, so die Gedanken des Protagonisten Oliver Seuß aus dem zweiten Roman des 48-jährigen Autors Patrick Hofmann.

Die Hauptfigur ist ein Mathematik-Genie aus einer sächsischen Kleinstadt, 1989 geboren und in einer zerrütteten Familie aufgewachsen. Olivers Mutter verlässt früh die Familie, der überforderte Vater - einstiger NVA-Grenzsoldat und in seiner Freizeit als gröhlender Animateur einer drittklassigen Unterhaltungsband aktiv - gibt das Kind zunächst in die Obhut der Großmutter, dann geht es in ein Kinderheim.
Eigentlich alles andere als gute Vorzeichen für eine mathematische Hochbegabung, für eine spätere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Riemannschen Vermutung - eine hochkomplexe, mathematische Hypothese, die 1859 von Bernhard Riemann in seiner Arbeit „Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe“ formuliert wurde.
Autor Patrick Hofmann, der 2002 an der Humboldt-Universität über Edmund Husserls Beschreibungstheorie promovierte, legt hier sowohl Aufsteiger- und Familienroman als auch einen Wissenschaftsroman vor. In Olivers Familie wird mehr miteinander getrunken als geredet, Alkohol gehört zum Alltag, Gefühle existieren offensichtlich nicht: „Viel zu ihm gesprochen hatte niemand. Oder ihn gehalten; länger gehalten als nötig. Solche Berührungen ließen sich zählen. Und zählen half. Die Zahlen halfen. Denn sie waren immer da.“ Als emotionale Kompensation und selbst inszenierter Familienerssatz.
Mit siebzehn erhält Oliver bei der Mathematik-Olympiade in Montreal eine Auszeichnung, die Familie (oder was davon übrig geblieben ist) kann damit nichts anfangen, der Protagonist freut sich über die öffentliche Anerkennung, will aber mehr, will etwas Bleibendes schaffen.
Patrick Hofmann schildert das völlige Verschmelzen seiner Hauptfigur mit der Mathematik, die Passion avanciert hier zur Obsession: „An einigen Tagen wurde Oliver regelrecht wütend, wenn ein Gedankengang versandete, wenn auf eine Folgerung die gebändigten Kurven, die Kanten der Räume wieder ins Haltlose schossen.“ Das Studium fordert ihn nicht wirklich, Oliver bleibt ein Dauersuchender im Forschungs-Labyrinth der Primzahlen.
Es geht beim Protagonisten emotional auf und ab, er testet seine eigenen kognitiven Grenzen aus, schüttet Bier zum „runterfahren“ in sich hinein und pushed sich mit barocken Bach-Klängen wieder auf.
„Nagel im Himmel“ liefert uns eine gefährliche Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen himmlischen, wissenschaftlichen Sphären und drohenden Totalabstürzen. Bei Olivers Achterbahnfahrt gibt es aber ein finales Happy-End – an der Seite der nicht minder ehrgeizigen Physikerin Ina. Ein gleichermaßen faszinierender wie beklemmender Roman über eine permanente Grenzerforschung, hochgesteckte Ziele und das ehrgeizige Streben nach Anerkennung.

Patrick Hofmann: Nagel im Himmel. Roman. Penguin Verlag, München 2020, 300 Seiten, 22 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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