Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“
Eine Prinzessin bei Shakespeare

„Ich wusste, wenn es mal nicht mehr weitergeht, kann ich mich für 20 Pfennig dahin wenden. Und gerade hier in der Gegend erlebte ich diesen Kontrast der Stadt immer sehr stark, das Glitzernde und das abgrundtief Hässliche“, hatte Schriftstellerin Judith Kuckart kürzlich in einem Interview über ihre persönlichen Erfahrungen im Berlin der frühen 1980er Jahre berichtet.

In ihrem neuen Roman stehen sieben ehrenamtliche Mitarbeiter eines Berliner Sorgentelefons im Mittelpunkt und deren Arbeit am Hörer, die sie an einem langen Osterwochenende machen, aber auch mit ihren eigenen, höchst unterschiedlichen Lebensläufen.
Judith Kuckart, 1959 in Schwelm geboren, ausgebildete Tänzerin und Choreografin, hat sich seit ihrem literarischen Debüt „Wahl der Waffen“ (1990) peu à peu weiter entwickelt und ist zu einer ganz wichtigen Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geworden. Parallel zu ihren literarischen Arbeiten ist sie auch emsig am Theater unterwegs. Im letzten September hatte sie mit ihrem Tanztheater „Skoronel“ das Stück „Die Erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie nicht“ in Wiesbaden auf die Bühne gebracht, momentan inszeniert sie ein eigenes Stück in der Bremer Shakespeare Company. Hören, sehen, Gefühle zum Ausdruck bringen – das sind Konstanten in Judith Kuckarts künstlerischer Arbeit.
Judith Kuckart weiß, wovon sie schreibt, denn sie hat selbst einige Zeit ehrenamtlich an einem Sorgentelefon mitgearbeitet. Das Zuhörenkönnen und jede Menge Geduld und Gelassenheit sind unabdingbare Voraussetzungen für diese Arbeit, die sich in einem weitestgehend anonymen Raum abspielt. Die Anonymität zwischen Anrufer und Angerufenem schafft einen besonderen Schutzraum für die Kommunikation. Es geht gleichermaßen um Banalitäten wie um existenzielle Probleme, um Langeweile und um handfeste Lebenskrisen.
Erzählt werden die Geschehnisse um das „Krisentelefon“ von der knapp 80-Jährigen Frau von Schrey – klug, aber oft burschikos im Umgang. Sie fungiert als eine Art Coach ohne Amt in dieser Gruppe der Ehrenamtlichen.
Dazu gehören der Rentner Lorentz, die Buchhalterin Marianne, Wanda, die leidenschaftliche Sammlerin von DDR-Reliquien, der Bauarbeiter Matthias, die attraktive Emilie und das Nesthäkchen, die Theologiestudentin Rieke, die sich von ihrer Arbeit auch Inspiration für Übungspredigten erhofft. Menschen unterschiedlichster Provenienz treffen hier auf beiden Seiten des Kommunikationskanals aufeinander.
Die Kommunikation verläuft nicht einseitig. Es gibt keine Trennung zwischen Erzähler und Zuhörer. „Intensität kommt von beiden Seiten“, hat Judith Kuckart kürzlich in einem Interview mit dem WDR über ihren Roman erklärt. Tatsächlich verbirgt sich hinter den Dialogen zwischen den Ehrenamtlichen auch eine tiefgehende Reflexion über den Schreibprozess und den schmalen Grat zwischen Erinnerung und Fiktion. Beim Sorgentelefon und beim Schreiben geht es um die Fähigkeit, aus Fragmenten etwas Ganzes zu machen.
„Was ist schon fiktiv und was real existierend, mein Kind, wo bitte soll da der Unterschied sein?“, fragt die Ich-Erzählerin von Schrey die junge Studentin Rieke. Emilie wiederum beklagt sich, dass sie „keine richtige Figur“ sei, sondern sich fühle „wie eine von diesen albernen Prinzessinnen bei Shakespeare“. Bei Judith Kuckart geht es um weit mehr als nur das Sorgentelefon, es geht um kommunikative Mechanismen, um die Anonymität beim Schreiben und um die Eigendynamik die literarische Figuren entwickeln können.
Judith Kuckart ist eine Autorin, die die Zwischentöne liebt, die gerne tief in ihre Figuren hinein horcht und ihnen (wohltuend leise, aber dennoch vernehmbar) Stimme verleiht. Ihre Bücher taugen nicht für zwischendurch, sie sind nicht spannend im konventionellen Sinn, sie gehen ganz stark in die Tiefe und entfachen eine enorme Langzeitwirkung.
„Wie will ich all meine Geschichten hier zu Ende gehen lassen? Ebenso gut könnte ich mich fragen, wie geht das Leben zu Ende?“, befindet die Ich-Erzählerin am Ende der Handlung. Viele offene, bewegende Fragen – unaufgeregt und beinahe lakonisch erzählt.

Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren. Roman. Dumont Verlag, Köln 2022, 203 Seiten, 23 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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