Leben in einer Wirklichkeitsdoublette


Wilhelm Genazinos Roman "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" (erscheint Montag)

Wilhelm Genazino, der vor einer Woche seinen 75. Geburtstag feierte, spricht im Rückblick über seine Schriftstellerlaufbahn von "einem konventionellen, langsamen bürgerlichen Aufstieg." 2001 hatte Marcel Reich-Ranicki im "Literarischen Quartett" des ZDF die Werke des gebürtigen Mannheimes hochgelobt, drei Jahre später gab es den öffentlichen Ritterschlag durch die Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Seitdem erfreuen sich Genazinos zumeist schmale Romane über liebenswerte Außenseiter auch einer wachsenden Leserschaft.

Wie kaum anders zu erwarten, steht auch im neuen Werk eine Figur im Mittelpunkt, die in ihrem Leben die Kurve nicht richtig bekommen hat: "ein nicht mehr ganz junger Junggeselle". Erst Bibliothekar, dann als Wertpapierhändler und zum Schluss als Provinzredakteur hat er sich mit eher bescheidenem Erfolg durchs Berufsleben laviert. Auch privat hat eder Anfangsechziger sein Glück nicht gefunden, bekundet das Frauenbusen ihm immer noch eine " Grundorientierung" bieten und er sich in einem permanenten "Liebesbereitschaftsdienst" befindet. Zu solch einer disparaten, emotionalen Gemengelage passt es hevorragend, dass er seine Ex-Frau Sibylle wieder trifft und sie (warum auch immer?) einen Neuanfang starten.
Als erfahrener Genazino-Leser ahnt man, dass es der Beginn der nächsten Katastrophe ist. "Nach dem Fernsehen wollte Sibylle beischlafen, so dass ich dann und wann das Gefühl hatte, ich sei ein Teil des Fernsehprogramms geworden." Glück klingt anders, und diesmal kommt es sogar knüppeldick, denn Sibylle verunglückt tödlich.
Der Protagonist befindet sich in einem Prozess des lebenslangen Scheiterns - zwischen Warten und Fliehen, zwischen Aufbruch und Resignation. Ein Zustand, den Genazino als "eine Art Wirklichkeitsdoublette" beschreibt.

Ratlosigkeit als Lebenskunst
"Das Scheitern beginnt, wenn ein Mensch die Menge dessen entdeckt, von dem er nie hatte etwas wissen wollen." Ja, irgendwie sind alle Genazino-Protagonisten ähnlich strukturiert. Traurig bis melancholisch und mehr oder weniger stark gescheitert im bürgerlichen Alltag. Und doch erlebt man in jedem Genazino-Roman neue Facetten des Scheiterns - ganz nach dem Tolstoj-Motto: "Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich."
Es gibt aber auch kurze, dafür umso intensivere Glücksmomente. Die Hauptfigur lauscht mit großer Andacht und innerer Anteilnahme Gustav Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen" und bilanziert die "eigene Ratlosigkeit als eine Art Lebenskunst".
Wilhelm Genazino lässt uns wieder mit einer Figur ziellos durch den Alltag flanieren und gewährt uns dabei einen tiefen Einblick in das Innenleben - nicht rabiat, sondern feinfühlig, nicht sezierend und urteilend, sondern lediglich beobachtend und dabei total entschleunigt, beinahe im Zeitlupentempo. Die große Kunst des Autors besteht auch darin, seine Protagonisten (trotz all ihrer Skurrilitäten) niemals der Lächerlichkeit preiszugeben. Stattdessen verliert er ihnen eine Heiterkeit des Unerträglichen. Es ist immer wieder faszinierend, wie Genazino mit leichter Hand zwischen Komödie und Tragödie changiert. "Kann man denn nicht lachend auch sehr ernsthaft sein?", heißt es in Lessings "Minna von Barnhelm". Ja, man kann. Genazino beweist es immer wieder aufs Neue.

Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018, 176 Seiten, 20 Euro 

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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