„Die Imker“ - Romanvermächtnis von Gerhard Roth
Sternengleich zwischen Wahn und Sinn

„War es nicht merkwürdig, dass gerade wir, zum Großteil ‚unnütze‘, ‚unbrauchbare‘ Menschen, die Katastrophe im April überlebt hatten? Ich grübelte darüber nach.“ Diese Gedanken gehen der Hauptfigur Franz Lindner in Gerhard Roths letztem Roman durch den Kopf.

Nichts ist normal in diesem Roman. Und das aus gutem Grund. Jener Franz Lindner, Sohn eines Imkers, war schon Protagonist im 1984 erschienenen Roman "Landläufiger Tod". Inzwischen hat der schizophrene Lindner die sechzig überschritten und lebt in der Nervenklinik Gugging im anstaltseigenen „Haus der Künstler“. Aus therapeutischen Gründen führt er eine Art Tagebuch.
Roths Protagonist, der sich bisweilen Wilhelm Hermann nennt, hat die seltsame Gabe, sich der Natur gänzlich anzupassen, mit ihr förmlich zu verschmelzen. Oder ist dies nur seine eigene, von seiner psychischen Krankheit ausgelöste, gestörte Selbstwahrnehmung?
Jedenfalls gehört er zu den wenigen Überlebenden (mit ihm auch zwei Anstaltsärzte, ein Soldat und eine SOS-Kinderdorfgruppe) einer großen Naturkatastrophe, die sich an einem 1. April in Form eines gelben Nebels ereignete. „Ich erwachte früh am Morgen. Wie verabredet wartete ich schon darauf, von meinem Neffen Eugen aus der Anstalt abgeholt zu werden. Seit dreißig Jahren beschäftigt auch er sich mit Bienen, bald so lange wie mein Vater, der es auf über vierzig Berufsjahre brachte.“
Lindner/Hermann flüchtet auf den einsamen Bauernhof des Neffen, der vermutlich Roths langjährigem Zweitwohnsitz in der Süd-Steiermark nachempfunden ist. Die Menschen haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst, nur die Dinge bleiben zurück und die Tiere. Es brennt allenthalben, doch es gibt keine sichtbaren Opfer, lediglich Kleider und Alltagsutensilien bleiben als Spuren.
Gerhard Roths letzter Roman ist weit mehr als eine verschlungene Dystopie, er ist die Summe all seiner Bücher – Abschied und Vermächtnis. Essayartige Einschübe (zumeist über Naturthemen und die Fotografie), absurde Gedichte und persönliche Reflexionen mischen sich mit der Handlung um den kranken Lindner/Hermann.
„Sicherlich bin ich nicht der erste Mensch, der die Entdeckung macht, sternengleich zu sein, im Gegenteil, die Form dieser Existenz wartet nur darauf, von Menschen erkannt und gelebt zu werden“, bilanziert Lindner nach der „Nebel“-Katastrophe.
"Ich leb' jetzt viel lieber als früher, mir gefällt auf einmal der Alltag, der mich früher überhaupt nicht interessiert hat. Jetzt gefällt mir alles ununterbrochen", hatte Gerhard Roth mit leicht altersversöhnlichem Tenor vor einigen Jahren erklärt. Bis zum Schluss hatte er mit ungebrochenem Elan geschrieben und fotografiert. In den 1980er Jahren hat er sich in seinem siebenbändigen Monumental-Epos "Archive des Schweigens" mit der literarischen Aufarbeitung der österreichischen Geschichte befasst. Gerhard Roth, der am 8. Februar dieses Jahres im Alter von 79 Jahren gestorben ist, war ein "literarischer Etappenfahrer" mit gewaltigem erzählerischen Stehvermögen. Seine Romane bauten aufeinander auf, ergänzten sich und enthalten unzählige Querverweise. „Der Imker“ ist nun sein opulentes Vermächtnis – wenige Wochen vor dem 80. Geburtstag (am 24. Juni) erschienen. Ein Erzählwerk zwischen Wahrheit und Imagination, zwischen Wahn und Sinn changierend. Der letzte Satz spricht Bände: „Ich setzte den Schlusspunkt. Doch nichts geschah.“ Es bleibt das große, verschlungene, manchmal auch rätselhafte Werk eines der wichtigsten österreichischen Gegenwartsschriftsteller, den man ungeniert auf eine Stufe mit seinem gleichaltrigen Kollegen Peter Handke stellen darf.

Gerhard Roth: Die Imker. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022, 548 Seiten, 32 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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