Buch der Woche: Vakuum und Wahrheit

Ralf Rothmanns großartiger Roman „Im Frühling sterben“


„Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt.“ Mit diesem tiefsinnigen Satz leitet Ralf Rothmann seinen neuen Roman „Im Frühling sterben“ ein, in dem er sich ganz nah an den Lebensweg seines Vaters heran begeben hat. Wer hätte gedacht, dass wir siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und runde sechzig Jahre nach Erscheinen der großen Nachkriegsromane von Heinrich Böll noch einmal eine literarische Begegnung mit den barbarischen Untaten dieser furchtbaren Zeit haben werden? Und das auf einem künstlerischen Niveau, das zuvor noch nicht erreicht wurde.

Der 62-jährige Ralf Rothmann, eine der wichtigsten Stimmen in der mittleren Generation der deutschsprachigen Autoren, hat sich literarisch stets eng an seinem eigenen Lebensweg orientiert, sowohl mit seinen düster-realistischen Romanen über Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet ("Wäldernacht", 1994, "Milch und Kohle", 2000, „Junges Licht“, 2004) als auch in seinen Berlin-Romanen („Flieh, mein Freund“, 1998, "Hitze“, 2003, „Feuer brennt nicht“, 2009).
Nun ist Rothmann ganz tief in die Vergangenheit eingedrungen und hat eine Kindheitserinnerung frei gelegt. „Es gibt da eine Stelle in meinem Leben, als ich acht Jahre alt war, da habe ich meinen Vater beim sonntäglichen Frühstück gefragt: 'Sag' mal, hast du im Krieg eigentlich auch geschossen?'“ So oder so ähnlich kann es sich in den frühen 1960er Jahren zwischen Ralf und Walter Rothmann zugetragen haben. Erinnerungen des Vaters und fiktive Einschübe mischen sich in diesem Roman zu einem Panorama des Grauens.

Dem Leben des Vaters angenähert
Walter Urban nennt Rothmann seine Vaterfigur im Roman. Der Protagonist arbeitet zu Beginn des Jahres 1945 (wie Rothmanns Vater) als Melker in Schleswig-Holstein und wird auf einem von den Nazis arrangierten Dorffest gemeinsam mit seinem Freund Fiete von der Waffen-SS zwangsrekrutiert. Sie werden als 18-Jährige nach Ungarn an die bröckelnde Ostfront kommandiert und begegnen dort Schwerverwundeten und Sterbenden, Flüchtlingstrecks, Militärkolonnen und KZ-Häftlinge marschieren in unterschiedlichen Richtungen vorbei, sie sehen verwüstete Dörfer und Städte, nirgends liegt mehr ein Stein auf dem anderen. Die Ausweglosigkeit dieses Irrsinns führt zu absurd-perversen Auswüchsen: „Unsere Offiziere werfen ihren eignen Leuten Handgranaten in die Hacken, damit sie überhaupt noch angreifen.“
Ralf Rothmanns Sprache ist drastisch und kompromisslos – und wahrscheinlich deswegen so ungeheuer intensiv: „Schwarz verkohlt und rauchend im Regen lagen die Leichen der Hitlerjungen in der Frühsaat.“

Freund zum Tode verurteilt
Fiete hält dieses unmenschliche Treiben nicht mehr aus und flieht. Er wird erwischt, als Deserteur zum Tode verurteilt und anschließend von seinen eigenen Kameraden (darunter auch Walter) erschossen. Walters letzter Besuch im Kellerloch bei seinem zum Tode verurteilten Freund Fiete gehört zum eindringlichsten und bewegendsten dieses großartigen Romans von Ralf Rothmann. Zuvor hatte Walter vergeblich versucht, den Kommandanten zur Begnadigung des Freundes zu überreden. Doch der „kultivierte“ Oberst, der Walter noch den korrekten Gebrauch des Genitivs beibrachte, „der unsere Seelen verfeinert“, bleibt hart und befiehlt Walter: „Weil du sein Freund bist. Du wirst gut zielen, damit er nicht leidet.“ Gerade durch solche Gegensätze (der Feingeist, der durch das System zum Unhold wurde) potenziert sich die emotionale Spannung in diesem Roman. Immer wieder lässt Rothmann auch Vogelschwärme über die Stätten der Gräueltaten kreisen. Leben und Tod ganz eng beieinander.

Was heißt hier Schuld?
Ralf Rothmann hat in seinem bewegenden Roman „Im Frühling sterben“ versucht, die Kriegstraumata darzustellen, nicht nur dieunmittelbare Angst um Leib und Leben auf dem Schlachtfeld, sondern die nicht enden wollende Zeit des psychischen Leidens danach, die in einem lebenslangen (Ver)-Schweigen und einer Flucht in den Alkohol mündete. Welche Form der Schuld hat Walter auf sich genommen? Trägt er (Mit)-Verantwortung am Tod seines Freundes Fiete?
Schuld erhält hier bei Ralf Rothmann eine völlig neue Dimension. Dieser Roman lässt unser Blut in den Adern gerinnen. Es fällt angesichts des Themas beinahe schwer, Ralf Rothmann zu diesem Meisterwerk zu gratulieren. Trotzdem chapeau!

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 234 Seiten, 19,95 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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