Der Mensch als Wiederkäuer belastender Gedanken: Depressives Grübeln

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Dass permanentes Umwälzen belastender Gedanken das Risiko erhöht, erstmals in eine depressive Episode abzurutschen, dass Depressionen mit Grübeln einhergehen können, wie sich Grübeln definiert und was man dagegen unternehmen kann, war kürzlich Gegenstand einer Veranstaltung im Martin-Luther-Krankenhaus in Wattenscheid.
Mit weit über 70 interessierten Zuhörern war der Vortrag im Rahmen des Bochumer Bündnis gegen Depression zum Thema „Depressives Grübeln - Bedeutung, Ursachen, Behandlung“ am Mittwoch, 02.05.12 erfreulich gut besucht.

Nach der Begrüßung und einigen einleitenden Worten zu Existenz und Funktion des Bündnis durch Dr. Jürgen Höffler, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des MLK Wattenscheid und Sabine Schemmann als 2. Vorstand des Vereins begann Diplom-Psychologe Dr. Tobias Teismann mit der Einführung in eine Thematik, die viele Menschen betrifft.

Der geschäftsführende Leiter des Zentrums für Psychotherapie (ZPT) der Ruhr-Universität Bochum widmet sich seit vielen Jahren klinisch wie wissenschaftlich der psychotherapeutischen Behandlung von Depressionen und der Bedeutung verschiedener Teilsymptome depressiver Erkrankungen, zu denen Depressives Grübeln zählt.

Wer genügend Phantasie besaß, sich eine mit ununterbrochen mahlendem Kiefer den Mageninhalt aufarbeitende Kuh auf der Weide vorzustellen, war in der Problematik bereits bestens aufgehoben.
Denn Grübeln könne man bildlich am treffendsten mit Wiederkäuen übersetzen, begann der Referent. Mit diesem Verhalten werde ein lang anhaltender Denkprozess um sich wiederholende Gedanken und Themengebiete beschrieben, dessen Fokus auf der Vergangenheit oder auf aktuellen Ereignissen der Gegenwart liege.
Dabei sei der Prozess mit typisch verallgemeinernden Fragen, wie: „Warum kann ich nicht einfach glücklich sein?“ und kritisch wertenden, analytischen Fragen, wie: „Warum bin ich so, wie ich bin? Warum bin ich immer unzulänglich?“ verknüpft.

Grübeln sei dadurch charakterisiert, dass Gedanken und Verhalten die Aufmerksamkeit einer Person auf deren depressive Symptome, deren mögliche Ursachen und Konsequenzen lenke.
Dabei grübelten Frauen weitaus häufiger als Männer, da diese eher in der Lage seien, sich abzulenken. Frauen grübelten jedoch nicht nur, sie überlegten auch, warum sie sich so fühlten, wie sie sich gerade fühlen und rutschten dadurch beständig tiefer in das Grübeln ab.

In der Regel gäbe es eine auslösende Situation, erklärte Herr Teismann. Das Grübeln beginne mit einem konkreten Anlass und verlaufe dann immer mehr in Richtung einer Verallgemeinerung: „Die Nachbarin hat nicht gegrüßt … Warum grüßt sie mich nicht? … Was habe ich falsch gemacht? … Warum mag mich eigentlich keiner? … Niemand mag mich.“

Im wissenschaftlich-therapeutischen Kontext unterscheide man zwischen „Grübeln, „sich Sorgen machen“ und „praktischem Nachdenken“, führte der Psychologe aus.
Grübeln beziehe sich auf Vergangenes und könne zur Entstehung von Depressionen führen. Es sei bewertend, abstrakt und lageorientiert.
Sorgen mache man sich in Bezug auf das Ungewisse der Zukunft, weshalb das Verhalten häufig mit Ängstlichkeit einher ginge : „Was ist, wenn ich krank werde? Was soll werden, wenn ich meine Arbeit verliere, etc.?“

Grübeln und sich sorgen könnten jedoch ineinander übergehen. Wer sich Sorgen mache, könne ins Grübeln geraten, umgekehrt könnten Grübeleien über die Vergangenheit dazu führen, dass man sich in Bezug auf die Zukunft Sorgen mache: “Was ist, wenn ich auch in Zukunft nicht mehr richtig glücklich werden kann?“
Das praktische Nachdenken sei hingegen handlungsorientiert, neutral, konkret und zukunftsorientiert. Das Denken orientiere sich an Sätzen wie: „Wie kann ich das hinkriegen?“ statt „warum sitze ich Trottel jetzt hier und schaffe es nicht?“,
so wurde den Zuhörern erläutert.

Zur Wirkungsweise Depressiven Grübelns:

Grübeln sei grundsätzlich ein Symptom, das unabhängig von einer depressiven Stimmung auftrete. Es könne sie aber auslösen oder aufrechterhalten und stelle deshalb einen Risikofaktor dar. Niemand werde jedoch niemand automatisch depressiv, nur weil er einmal grüble, wusste der Psychologe zu beruhigen.
Wer dem Grübeln verfällt, dessen Stimmung schaukelt sich auf; sie intensiviert sich. Je ausgeprägter sich die Neigung zum Grübeln darstellt, desto höher sei das Risiko der Erst-Erkrankung an einer Depression. Umgekehrt grüble derjenige mehr, der unter einer depressiven Episode leidet.

Studien zufolge werde nach einem einschneidenden Lebensereignis umso heftiger und intensiver gegrübelt und umso eher einer depressive Verstimmung entwickelt und je ausgeprägter das Grübelverhalten bereits vor dem Ereignis gewesen sei.

In einer Hochrisikogruppe mit hohen Erwartungen an sich selbst („ich muss in allem perfekt sein“) entwickelten ohne Vorliegen von Grübelverhalten 16,2 % erstmals eine Depression, während diese sich nur bei 2,7 % der Niedrigrisikogruppe einstellte, die keine hohen Ansprüche an sich selber richtete, nahm Herr Teismann Bezug zu ihm vorliegenden Studien.
Lag bei Patienten der Hochrisikogruppe noch zusätzlich eine erhöhte Grübelneigung vor, entwickelten 34%, von Patienten mit geringer Grübelneigung hingegen nur 12,5% erstmals eine Depression.

Je häufiger und intensiver man über negative Dinge nachdenke, desto mehr negative Aspekte gesellten sich hinzu, die negativen Erinnerungen würden stetig weiter negativ interpretiert. Dies habe Auswirkungen auf die Konzentration, das Problemlöseverhalten verschlechtere sich, zwischenmenschliche Beziehungen litten darunter. Prozesse, die unter einer negativen Stimmung ablaufen, würden noch zur Intensivierung beitragen.

Hinsichtlich des Grübelverhaltens sind Geschlechterunterschiede feststellbar. Während bei Betrachtung des normalen Alltagslebens Frauen häufiger grübelten als Männer, sei in klinischen Stichproben das Grübelverhalten zwischen Männern und Frauen ausgeglichen, gab Herr Teismann an.

Charakteristisch für grübelnde Menschen seien ein niedrigeres Selbstwertgefühl, negatives Denken und Defizite bei der Problemlösung. Ferner werde das Gesundheitsverhalten negativ beeinträchtigt, die Betroffenen sprächen schlechter auf verhaltenstherapeutische Maßnahmen an. Junge grübelnde Mütter könnten sich schlechter auf das Neugeborene einlassen.
Wesentlich sei auch, dass traumatisches Erleben sich unter Grübeln zu einer Traumafolgestörung entwickeln könne.

Zu den Ursachen fortgesetzten Grübelns führte der Referent aus, dass Grübeln zunächst als schlechte Gewohnheit beginne, die lohnenswert erscheine.
Indem man sagen könne, man denke über eine Problematik oder eine bestimmte Situation nach, könne man sich zunächst erfolgreich um unliebsame Kontakte oder Entscheidungen drücken, ohne sich schlecht fühlen zu müssen.
Ferner verspreche man sich vom Grübeln einen positiven Effekt: es könnte bei der Verarbeitung helfen, zu einer Problemlösung führen oder helfen, Leute und Ereignisse nicht zu vergessen,
erklärte der Psychologe.

Beginne man nach einer auslösenden Situation zu grübeln, könne es durchaus auch zu Problemlösungen kommen. Das Grübeln könne aber ebenso unkontrollierbar werden und in die Depression führen.
Grundsätzlich versprächen sich depressive Menschen mehr vom Grübeln, als gesunde Menschen oder Angstpatienten.

Wege aus der Grübelfalle: Die Therapie depressiven Grübelns

Als Problem bei der Behandlung depressiv erkrankter Menschen bezeichnete Herr Teismann, dass in der Verhaltenstherapie zwar die belastenden Inhalte des Patienten bearbeitet werden, nicht aber dessen Umgang mit diesen Inhalten. Insofern werde das belastende und die Depression aufrechterhaltende Grübeln kaum konstruktiv angegangen.

Eine Behandlung erfolgt in verschiedenen Schritten und zielt auf Selbstbeobachtung, Aufmerksamkeitstraining und schließlich auf das eigene Trainieren des Umgangs mit dem Grübelverhalten.
Zunächst beobachte man sich selbst. Man müsse sich fragen, ob und zu welchen Tageszeiten man grüble, wie lange man grüble und welches die Trigger seien; was also zur Auslösung und Aufrechterhaltung des unfreiwilligen Wiedererlebens beitrage. „Gibt es auslösende Gedanken und welche sind das? Ließe sich konstruktiv mit ihnen umgehen?“
Nach der zwei-Minuten-Regel solle man zwei Minuten lang weiter nachdenken und sich anschließend fragen, ob man bei der Lösung des Problems weitergekommen sei und sich besser fühle.

Habe das Umwälzen der Gedanken keine konstruktive Lösung herbeigeführt, lerne man, sein Verhalten und seine eigenen Versprechungen in Frage stellen: „Habe ich mir vom Grübeln über die Problematik etwas versprochen? Hat sich etwas von dem, was ich mir versprochen habe, geändert?“ Möchte ich das Verhalten beibehalten?

Das Integrieren eines Aufmerksamkeitstrainings hilft, die Wahrnehmung bewusst auf alternative Dinge, wie z.B. Geräusche zu lenken. Mit zunehmendem Training werde die Unkontrollierbarkeit des Grübelns in Frage gestellt, das letztlich viel Kraft kostet und den Betroffenen erschöpfe, ohne zu einem Ziel zu führen.
Mit der Feststellung, dass Grübeln einer aktiven Kontrolle unterzogen werden kann, werde nach alternativen Aktivitäten und Sinneseindrücken gesucht, die möglichst viel Aufmerksamkeit benötigen: Jonglieren erfordere mehr Konzentration als schwimmen etc. Auch das Konzentrieren auf den eigenen Atem könne helfen. Der Betroffene müsse für sich selber herausfinden, was sich eignet, um sich vom Grübeln abzulenken und sich in den gegenwärtigen Moment zurückzuholen.

Eine Behandlung des Grübelverhaltens teile sich kurzgefasst sinnvollerweise in verschiedene Fragestellungen und darauf basierende Schritte ein:
1. „Grüble ich?“
2. „Worüber grüble ich?“
3. „Verspreche ich mir etwas davon, dass ich grüble?“
4. „Trifft meine Erwartung zu?“
5. „Möchte ich mich aktuell weiter mit den Grübel-Inhalten auseinandersetzen?“

Beantworte man die Frage mit „Nein“, sei das Aufmerksamkeitstraining eine mögliche Hilfe, aus dem ablaufenden Prozess herauszufinden. Auch der Grübelaufschub sei hilfreich, er diene dem Sammeln von Kontrollierbarkeitserfahrungen. Man schreibe auf, was die Gedanken beschäftigt und verschiebe das Nachdenken über das Problem auf einen späteren Zeitpunkt, der nicht später als 2 Stunden vor dem Zubettgehen liegen sollte.

Beantworte man sich die Frage mit „Ja“, solle man Alternativen zum Grübeln suchen, in andere Aktivitäten kommen, den Problemlöseprozess zu strukturieren versuchen, um konstruktive Problemlösungen zu erarbeiten. Hilfreich sei z.B. expressives Schreiben. Man schreibe 15 Minuten tagebuchartig über das Ereignis, schildere exakt, warum es so beschäftigt und was kränkt. Dabei solle man eine neugierige Haltung einnehmen und die abwertende Auseinandersetzung vermeiden, wurde den Zuhörern erläutert.

Könne man einen Zustand losgelöster Achtsamkeit erreichen, sei ein gutes Ziel erreicht: Man nehme die negativen Gedanken als gegeben wahr, lasse sich jedoch nicht auf sie ein, sich also nicht von ihnen provozieren.
Es müsse deutlich werden, dass Gedanken vorbeifließen und sich nur provokante Gedanken festsetzten, was es aktiv zu verhindern gelte.

Das Ergebnis durchgeführter Studien zeige gute Resultate, gab der Psychologe an. Dennoch funktioniere das Vorgehen nicht bei jedem gleichermaßen. Für einige Betroffene habe sich nach Ende der Behandlung im Rahmen der Studie nichts verändert. In der Realität bliebe die Umsetzbarkeit der Strategien in Eigenregie schwierig. Man müsse möglichst im Training bleiben, in einer Gruppe sei dies einfacher. Es gäbe jedoch mit Ausnahme der Einrichtung von Gruppen zu Studienzwecken bislang leider keine Trainingsgruppen.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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