"Beschämend für Deutschland" - DRK-Präsident Dr. Rudolf Seiters in "Die Welt"

DRK-Präsident Dr. Rudolf Seiters
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DRK-Präsident Rudolf Seiters ist entsetzt, dass seine Mitarbeiter bei der Betreuung von Flüchtlingen angegriffen werden. Von der Politik fordert er, stärker zu vermitteln. An der Seite von Kanzlerin Angela Merkel hat der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Rudolf Seiters, gerade die Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau besucht. Der Empfang sei „ausgesprochen freundlich" gewesen, sagt Seiters. Draußen vor dem Heim habe es dagegen „widerliche Aggression" gegeben.

Am 29. August veröffentlichte "Die Welt" folgendes Interview mit DRK-Präsident Dr. Rudolf Seiters:

Die Welt: Herr Seiters, Sie sind seit zwölf Jahren Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Wie hat sich ihr Job verändert, seit es diese akute Flüchtlingsproblematik in Deutschland gibt?

Seiters: Der Tsunami in Südostasien, der Taifun auf den Philippinen, und das Erdbeben in Nepal waren furchtbare Naturkatastrophen, auch beim Elbehochwasser in Deutschland waren wir im Großeinsatz. Aber die Flüchtlingskrise hat eine ganze neue Dimension. Einerseits sehen wir aktuell die höchsten Flüchtlingszahlen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und andererseits kommen die Menschen aus sehr vielen Ländern zu uns. Es gibt ja Leute, die sagen, die Welt sei in den letzten Jahren aus den Fugen geraten.

Die Welt: Ist dies derzeit die herausforderndste Zeit, die Sie als DRK Präsident erleben?

Seiters: Innerhalb Deutschlands wohl schon. Bei dem Elbhochwasser war nach einigen Wochen das Gröbste beseitigt. Die Menschen wussten, dass die Länder und Kommunen sich um den Wiederaufbau kümmern. Und in der jetzigen Situation kann ich mir vorstellen, dass der normale Bürger und die normale Bürgerin, die jeden Abend vor dem Fernseher sitzen und sehen, wieviel Menschen nach Deutschland kommen möchten, sich Sorgen darum machen, wie es weitergehen wird.

Die Welt: Was würden Sie zu diesen Menschen sagen, die der Situation kritisch gegenüberstehen?

Seiters: Diese Stimmung entstammt einer Ungewissheit. Aber darauf kann man nur reagieren, indem man Kritiker fragt, wo sie ganz konkret davon betroffen sind, wenn wir 200.000 oder 300.000 Menschen bei uns im Land aufnehmen. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nicht nur deutlich zurückgegangen. Tüchtige Arbeitskräfte sind sogar erwünscht. Ich appelliere auch an Unternehmen, in Flüchtlinge zu investieren und ihnen zum Beispiel Deutschkurse zu finanzieren. Außerdem haben wir festgestellt, dass die Hilfsbereitschaft der meisten Deutschen gegenüber Menschen, die vor Krieg oder Verfolgung fliehen, außerordentlich hoch ist. Das ist ermutigend.

Die Welt: Sie haben gerade gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel die Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau besucht. Wie war die Stimmung?

Seiters: Der Empfang in der Unterkunft war ausgesprochen freundlich, es gab Applaus für die Kanzlerin. Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen auch ein Stück dankbar dafür sind, hier zu sein. Anders die zum Teil widerliche Aggression bei den 200 Demonstranten draußen.

Die Welt: Wie unterscheidet sich Heidenau von anderen Flüchtlingsunterkünften, die Sie besucht haben?

Seiters: Die Einrichtung in Ingelheim in Rheinland-Pfalz war kleiner und gerade erst eingerichtet. Der große Unterschied ist, dass es dort keine Angriffe auf die Einrichtung oder die Helfer gegeben hat. In Ingelheim steht eben niemand vor der Tür, der grölt. Und in Heidenau schon. Ich bin bestürzt über die Art und Weise, wie DRK-Helfer angegriffen wurden. Es ist beschämend für Deutschland, wenn sich der Zorn hier gegen Menschen richtet, die nur anderen Menschen helfen wollen.

Die Welt: Sind Sie zufrieden mit der Spendenbereitschaft der Deutschen?

Seiters: Grundsätzlich ist die Spendenbereitschaft bei Naturkatastrophen, für die die Menschen nichts können, am Höchsten. Bei Bürgerkriegen sind die Menschen eher zurückhaltend. In der jetzigen Situation rufen wir vor allem zu Spenden auf, um die ehrenamtliche Arbeit für Flüchtlinge in Deutschland zu unterstützen und gleichzeitig den Menschen in den Herkunftsländern zu helfen.

Die Welt: Bund und Länder wollen sich im September zum Flüchtlingsgipfel treffen. Was erwarten Sie?

Seiters: Erst einmal muss der Flüchtlingsgipfel so schnell wie möglich kommen. Es muss ein Signal der Einigkeit von diesem Treffen ausgehen. Bund, Länder und Gemeinden müssen der Bevölkerung vermitteln, dass sie an einem Strang ziehen, und dies mit Hilfsbereitschaft, Zielgerichtetheit und Kompetenz. Das hat oberste Priorität. Darum sollte man Fragen, die parteipolitisch umstritten sind, aktuell zurückstellen. Zum Beispiel den Vorschlag, Asylbewerberleistungen zu kürzen, nachdem uns das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr erst angewiesen hat, die Leistungen anzugleichen. Oder auch die Frage, ob die Menschen mehr Sachleistungen anstelle von Geldleistungen erhalten sollen.

Die Welt: Was ist für Sie unstrittig?

Seiters: Die Politik muss sich den Realitäten stellen und klar differenzieren zwischen Asylbewerbern, die aus sicheren Drittstaaten kommen und denen, die politisch verfolgt sind und aus Bürgerkriegs- und Kriegsgebieten kommen. In den ersten Fällen brauchen wir schnelle Verfahren. Wir können den Menschen, die wirklich in Not sind, nur dann helfen, wenn die staatlichen Behörden nicht überlastet werden. Bund und Länder müssen auch bestimmte bürokratische Hürden beseitigen und etwa Bauvorschriften ändern, da es heute oftmals viel zu lang dauert, eine Genehmigung zu bekommen, um eine winterfeste Notunterkunft einzurichten.

Die Welt: Sehen Sie die Bundesregierung in einer besonderen Verantwortung, sich in Brüssel für eine gemeinsames europäisches Vorgehen einzusetzen?

Seiters: Ich bin schon traurig, dass wir in Brüssel kein angemessenes Management für die gegenwärtige Situation haben. Dass wir uns nicht auf sichere Drittstaaten verständigen können. Dass wir noch keine faire Quotenverteilung haben. Und eine faire Quote würde sich nicht allein auf die Einwohnerzahl beziehen, sondern auch die Wirtschaftskraft eines Landes berücksichtigen. Es kann aber nicht sein, dass Deutschland, Österreich und Schweden die Hauptlast tragen, während viele andere sich kaum beteiligen. Es ist auch beschämend für Europa, dass wir solche Vorfälle wie die vielen toten Flüchtlinge in einem Lastwagen in Österreich nicht verhindern können.

Die Welt: Was ist zu tun?

Seiters: Aus meiner Sicht fehlt vor allem ein Notprogramm für diejenigen Staaten an der Schengen-Grenze, die mit der jetzigen Situation absolut überfordert sind. Daher hoffen wir auf einen europäischen Flüchtlingsgipfel, der die Probleme anders anfasst als bisher. Bislang sehe ich viel unhistorischen Egoismus in einer Gemeinschaft, die sich eigentlich verpflichtet hat, eine Wertegemeinschaft zu sein.

Die Welt: Könnten Sie sich als Ultima Ratio vorstellen, Schengen auszusetzen und wieder Kontrollen einzuführen?

Seiters: Grundsätzlich glaube ich nicht, dass Rückschritte bei europäischen Vereinbarungen richtig sind. Man sollte versuchen, mit den vorhandenen Instrumenten klarzukommen, aber das bedarf eben einer europäischen Einheit und Solidarität. Die Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung hängt auch davon ab, ob es eine europäische Einigung gibt oder nicht.

Die Welt: Wie viele Flüchtlinge können Sie noch versorgen? Oder werden langsam die Ressourcen knapp?

Seiters: Wir haben bereits 160 Notunterkünfte und zwölf Zeltlager ausgebaut, wir haben 25.000 Schlafsäcke zur Verfügung gestellt und betreuen derzeit 45.000 Flüchtlinge. Und wir haben noch Kapazitäten, obwohl diese natürlich auch nicht unbegrenzt sind. Jetzt bin ich sehr froh, dass ich in meiner Zeit als Bundesinnenminister dafür gesorgt habe, dass das Technische Hilfswerk, das ich Anfang der 90er Jahre zu einer selbständigen Bundesoberbehörde ausgebaut habe, in der Zuständigkeit des Bundes geblieben ist. Wir arbeiten gut zusammen.

Die Welt: Der Winter steht vor der Tür. Sind Sie gut vorbereitet?

Seiters: In den Zelten können die Flüchtlinge auf keinen Fall überwintern. Aber die Aufgabe des Roten Kreuzes ist es nicht, Wohnungen bereitzustellen. Diese Aufgabe liegt bei den Behörden. Wir können nur dabei helfen, die Unterkünfte auszustatten und die Menschen zu betreuen.

Die Welt: In den sozialen Medien wird gern behauptet, viele Flüchtlinge würden besser in Deutschland leben als so mancher Deutscher.

Seiters: Ich habe grundsätzlich nichts gegen die sozialen Medien. Sie sind gerade in der jungen Generation sehr beliebt. Aber die verbalen Auswüchse und Beleidigungen unter dem Deckmantel der Anonymität, wie sie auch Bundesjustizminister Maas beklagt, sind teilweise widerlich. Da kann ich schon froh sein, dass es dies in der Phase der Wiedervereinigung 1989/90 noch nicht gab. Weil ich glaube, dass diese Art und Weise sich anonym zu äußern, in der damaligen Situation nicht angemessen gewesen wäre.

Die Welt: Was glauben Sie denn, was damals passiert wäre?

Seiters: Der schwierige Weg zur Wiedervereinigung konnte national wie international nur geebnet werden durch ein hohes Maß an Sensibilität, Rücksichtnahmen und Verlässlichkeit. Auch die damals durchgängig positive Haltung unserer Bevölkerung war sehr hilfreich.

Autor:

Christian Lange aus Wattenscheid

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