Niederrheinisches Filmfestival: es ist minütlich mit Überraschungen zu rechnen

diese Deko passt wie der Film in die Dose
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Einst war das Scala Kulturspielhaus ein Kino. Und nun ist es wieder eines geworden — nicht aus retro-motivierter Sentimentalität heraus, sondern aus Liebe zum Bewegtbild. Und weil es einen Wettbewerb auszutragen galt. Für Kurzfilme. Denn Wesel suchte am Wochenende seinen „neuen Tarantino oder Spielberg“. Ersterer könnte im Pussywagon à la Kill Bill das Filmvorführ-Equipment zum Scala fahren und der Zweite könnte mich im E.T.-Stil, mit leuchtendem Zeigefinger in einem Fahrradkorb, dorthin fliegen. Aber Spaß beiseite: Das 1. Niederrhein Filmfestival vom 02.–04.03. war ein Fest für die Augen!

(Und das Timing passt: In einer Phase des Medienkonsums, in der langatmige, dramaturgisch verzwickte Serien eine Hochkultur haben, in der das Hobbybekenntnis „ich-gucke-Serien“ ein selbstverständliches Ethos von Zeitgeistigkeit transportiert… da feiert das Scala die vielseitige Uneinheitlichkeit verschiedenster Kurzfilme, und dann auch noch in Serienmarathondichte. Das ist Trend und Gegentrend in einem und eben darum sehenswert.)

Da dies hier eine Lokalzeitung ist, schauen wir zunächst auf die Einreichungen der Kategorie Wesel:
Lars Böhnke formulierte mit »Brief an Quentin« eine ironisch nicht unterdosierte Videocollage als Einladungsbrief an Quentin Tarantino höchstpersönlich. Frech, exzentrisch, selbstbewusst, einprägsam. Dafür wurde er sowohl mit dem Jury-, als auch mit dem Publikumspreis honoriert.

Mit Lob wurde auch Carla Gottwein bedacht, die mit ihrem Beitrag über ein Milchbauernpaar einen sensorisch aufmerksamen Blick für Details, Texturen und konzentrierte Momentaufnahmen bewies.

Was aus Schattenspielen entstehen kann — mithilfe von organza-artigem Gewebe, verquirlter Tinte und Silhouetten — das durfte in der Arbeit »Nachtschatten III« von Silvia Dierkes bestaunt werden. Ansehnliche Synthese aus steril anmutender Formklarheit und organisch daher kommenden Formspielen.

In »Rentnerglück am Baggersee« von Klaus Ahrens konnte man einem lebhaften Boot namens Sindbad bei seiner bewegungstollen Spazierausfahrt beobachten. Ohne Leinenpflicht! (…kleiner Kalauer wegen „Leinen los!“… Ja, is´ ja gut, ich hör´ schon auf)

Winni Rüth sorgte mit dem Filmen vom Langen Heinrich herunter für eine Rundumsicht über den Stadtkern (Pfahlhocken mit Sinn und für Fortgeschrittene: mit Kamera auf dem Funkturm stehen!). Und in darauf folgenden Interviews entlockte er Wesels Bewohnern die zuckrigsten Lobeshymnen über ihre Heimat, süßer als in Honig gewälzter Rohrzucker mit Natreen-Crispies.

»#Lebenszeit« von Hans Lietz wäre gefühlt beinahe ein Imagefilm des örtl. Statistikerfachverbandes geworden, aber die trockenen Zahlen wurden schon deutlich einfallsreich illustriert. Das waren Zeitrafferaufnahmen, die mittels lebende-Statuen-Haltung von den Schauspielern mit Standbildern ihrer Selbst versehen wurden. Raffiniert.

David Scharrs »Transition« war professionell fotografiert und mit gratis Meta-Ebene versehen: der Protagonist, ein Drehbuchautor, versucht krampfhaft mit der Kraft seines Schreibens in einer Art schriftstellerischem Wortzauber in seine Realität einzugreifen. Das Wort als Wunsch und Erfüllungsgehilfe, als Weltbemächtigung. Das mag nach archaischem, magischem Denken klingen …aber als Symbol einer planungswütigen Gesellschaft funktioniert das ausgezeichnet.

Die weiteren Beiträge waren ein hoch gestylter Symbolismus von Angela Semenas, Mehmet Can Kucaks filmgewordene Kurzdefinition des Albtraums und ein Musikvideo von Zwackelmann.

Die Kategorie Niederrhein hatte auch Einiges zu bieten:
Aydin Işik hat mit seinem Film »Vater?« ein Werk vorgelegt, das die Identitätssuche dreier türkischer Brüder exzellent darstellt: Diese von Verblüffung verschütteten Charaktere, die in ihrer Typendiversität ein bisschen an die Brüder Karamasow einer post-pegida'schen Integrationsdebatte denken lassen, sind perfekt herausgearbeitet. Dieser Film ist das Funkeln eines situationskomischen Kronleuchters, der vor subtilen Pointen nur so glitzert und durch ausgefeilte Szenen aufpoliert schimmert — in einem Kellergewölbe der Weltkomplexe, grauen Vorurteilen und ethischer Stolperdrähte. Zusätzlich dazu gab´s großartig komponierte Bilder, die der Netzhaut schmeicheln. »Vater?« gewann in der Kategorie bester Film vom Niederrhein.

In derselben Sparte lernte ich auch den Film Echos schätzen — da wurde mit dem Satz „Carla ist tot“ eine aufwühlende Analyse von Schmerzverleugnung als zusätzlichen Schmerzauslöser entfesselt und hautnah der Kampf um das Schmerzmittel seelischer Akzeptanz und Hilfeannahme ausgetragen.

Es gab sogar einen Film, der sich am ehesten zusammenfassen lässt mit den Worten „Liebling, ich hab´ Paranormal Activity geschrumpft“!

Und unsere niederländischen Nachbarn? Die hatten die Nase oft und verdientermaßen vorn…
Schonmal fundamentalistische Brettspielfanatiker in Action gesehen? Thrillergewordene Spieltheorie? Dann empfehle ich den Gewinner der Kategorie bester niederländischer Kurzfilm: »spelletjesavond« (alt. »Game Night«). Das Teil wäre als Achterbahnfahrt noch zu simpel beschrieben; eher eine Sechzehnerbahnfahrt oder ne' 32er; ein wahres Schauspiel. Was soll ich sagen? Sehen muss man ihn.

Von der Jury lobend hervorgehoben wurde außerdem »Anders« (orig. »Something about Alex«). Warmes Licht und tiefe Story — sehr berührend.

Ich möchte gar nicht zu viele Buchstaben darüber verlieren, nur die Erkenntnis dieses Festivals zusammenfassen: überraschen können die Niederländer grandios gut.

David Zabel (flink, charmant, multilingual) moderierte nicht nur das gesamte Niederrheinische Filmfestival hindurch gekonnt, er interviewte auch unterhaltsam und weltmännisch einige Filmschaffende (mehr davon in der Bildergalerie).
Die Veranstalter haben durch dieses länderübergreifende Konzept (gleich einem Kreativ-Schengenabkomnen) nicht nur eine Lücke im Kulturprogramm gefunden — sie haben sie auch beherzt mit diesem Festival geschlossen, sie haben sie gefüllt mit jeder einzelnen Minute Vorführung.

Meine Quintessenz: Kurzfilme sind Weltenschöpfer, die sich ihrer eigenen Vergänglichkeit und Kurzlebigkeit rühmen — die in Minuten erschaffen und vergehen lassen. Im Scala schenkte man ihnen Raum und Licht, gab ihnen damit natürlichen Lebensraum auf Leinwand und durfte durch sie erfahren: nicht nur „das Leben“, auch die Kreativität „findet immer einen Weg“*. Und die Veranstalter haben Wesel genau damit beschenkt. Danke dafür!

TiK

*Ja, das war ein Zitat mit cineastischem Background ;)

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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