Anwohner und Passanten ärgern sich über auffällig starken Winter-Rückschnitt an NRW-Straßen im Kreis Wesel
Gesundes "auf den Stock setzen" oder übertriebener Kahlschlag? Eine Umfrage unter Experten.

Entlang der Dinslakener Straße bei Hünxe. | Foto: Sabine Bassier
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  • Entlang der Dinslakener Straße bei Hünxe.
  • Foto: Sabine Bassier
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In diesem Winter fällt er besonders krass aus: der Kahlschlag allerorten, der an manchen Flächen kaum noch einen Baum zurücklässt. An den örtlichen Autobahntrassen und Bundesstraßen rings um Dinslaken, Hamminkeln, Hünxe, Vorrde und Wesel - grüne Barrieren werden scheinbar willkürlich platt gemacht.

In den sozialen Netzwerken macht eine spezielle Vermutung die Runde: Wie im vergangenen Sommer in der Wirtschaftswoche zu lesen war, habe das Land NRW ein Problem. Es hatte im Jahr 2007 einen Holzliefervertrag mit einer österreichischen Firma geschlossen, diesen jedoch mangels Liefermasse nicht einhalten können. Nachdem Österreich wegen Vertragsbruch geklagt hatte, die Klage aber in erster Instanz abgewiesen wurde, schwebt das Verfahren noch immer. Böse Zungen behaupten, NRW versuche derzeit, einem gerichtlichen Erfolg der Österreicher vorzubauen und großflächig Schnitzholz zu sammeln.

Mehr übers Thema lesen Sie hier!

Was ist dran an dieser Theorie? Oder gibt es vielleicht völlig andere Gründe für den offensichtlichen Kahlschlag?

Die Redaktion fragte an verantwortlichen Stellen im Umkreis nach.
Die Antworten lesen Sie hier ...

Bernd Romanski (Bürgermeister Hamminkeln): "Die Vermutung ist mir bekannt, aber mir fehlt jede Bestätigung, dass das stimmen könnte. Dagegen spricht eigentlich, dass das Holz zum Teil wochenlang liegen bleibt.
Aus meiner Sicht ist mit Erschrecken festzustellen, dass Strassen NRW offensichtlich unter Baumschnitt einen vollständigen Rückschnitt der Bäume versteht. Im Rahmen der Baumarbeiten an der A 3 in Ringenberg 2017 hatten wir Vertreter von Strassen NRW im Rat zu Gast, die uns erklärt haben, dass man das heute so macht.Völlig unverständlich, aber von mir als „Laie“ nicht überprüfbar."

Doreen Bonnes (ASG Wesel) erklärte: "Der ASG Wesel ist für die Grünflächenunterhaltung der Stadt Wesel zuständig. Da der von Ihnen geschilderte Sachverhalt nicht in den Zuständigkeitsbereich des ASG, sondern des Landes fällt, können wir hierzu keine Stellung nehmen.
Über geplante Baumfällungen innerhalb des Stadtgebietes berichtet der ASG im öffentlichen Teil der Betriebsausschusssitzungen, ebenso über die Gründe der Fällungen. Außerdem werden die Bürger über größere Maßnahmen und deren Gründe durch die Presse informiert, wie in der heute verschickten Pressemitteilung."

Thomas Traill aus dem Team der Biologischen Station im Kreis Wesel reagierte so: "Ich habe jetzt mal mit der Kreisverwaltung bzw. der Unteren Naturschutzbehörde darüber gesprochen und gebe hier wieder, was mir dort gesagt wurde. Die UNB kann aus eigener Anschauung nicht bestätigen, dass dies Jahr übermäßig geholzt würde. Sie sagt, dass jeden Winter derartige Anfragen eingehen, vielleicht weil normale Pflegemaßnahmen bis zum Nachwachsen der Gehölze für Laien aussehen wie Kahlschläge. Wenn ein Gehölzstreifen entfernt und dann am Nachwachsen gehindert würde (oder viel zu oft geschnitten würde), wäre das etwas Anderes. Laut UNB ist es eher so, dass sich durch unterlassene Pflege ein Pflegenotstand ergeben hat, der jetzt behoben wird. (weitere Infos von Thomas Traill finden Sie ganz unten!)

Laut der UNB werden alle sogenannten "Gehölzpflegemaßnahmen" von Straßen NRW (darum handelt es sich an Straßenböschungen i.d.R.) offen auf deren Webseiten angekündigt. Man findet sie HIER!

Susanne Schlenga (Zentrale Kommunikation Straßen NRW) antwortete: "..., ich bitte Sie sich zum Thema Gehölzpflege und Holzvertrag des Landes an die Pressestelle des Verkehrsministeriums zu wenden"
(Anmerkung der Redaktion: Dies ist fünf Minuten später geschehen - geantwortet hat das Amt bislang nicht!)

Peter Malzbender (Vorsitzender des Naturschutzbundes im Kreis Wesel, redet Tacheles: "Mit Holz wird viel Geld verdient. Was da momentan abgeht, ist reine Abzocke! Da scheint es ein Gentlemen-Agreement unter den Behörden zu geben, die benehmen sich wie die Feudalherren! Der NaBu wird dabei nicht länger zuschauen.
Diese Radikalschnitte sind sehr schlecht für Kleinlebewesen - sie verlassen den abgeholzten Bereich. Den Vögeln fehlen wichtige Nachrungsquellen und die Brutstätten. Der NaBu regt beim Rückschnitt eine Drittellösung an: ein Drittel auf Stock, ein Drittel nur halb, ein Drittel stehen lassen.
 Dass der Kreis als Unter Landschaftsbehörde sich herausredet und die Zuständigkeiten weitergibt, das geht gar nicht. Wir werden einen Aufstand machen - so viel kann ich versprechen! "

Dirk Buschmann (Bürgermeister Hünxe): "Die Fällarbeiten an Bundes und Landesstraßen obliegt den Straßenmeisterreien des Bundes, bzw. des Landes.
Baumschnitt und Fällarbeiten auf den kommunalen Straßen im Bereich der Gemeinde Hünxe können aus diversen Gründen erforderlich sein. Das Maß und die jeweilige Ausführung des Baumschnittes erfolgen unsererseits in einvernehmlicher Abstimmung mit der Naturschutzbehörde des Kreises Wesel.
Die Vermutung der Aktiven in den sozialen Netzwerken kann ich weder bestätigen noch widerlegen. Dazu wäre es notwendig mit den für die Baumschnittmaßnahme Verantwortlichen oder den für die Holzvermarktung zuständigen Stellen des Landes/Bundes Rücksprache zu halten."  

Bernhard Meier (stellvertretender Pressesprecher im NRW-Verkehrsministerium): "Ein Zusammenhang zwischen den Klagen der österreichischen Holzfirma Klausner und den Gehölzschnittarbeiten von Straßen.NRW ist vollkommen abwegig:
• Zum einen ging es in den 2007 nach Kyrill vereinbarten Holzlieferungsverträgen zwischen NRW und Klausner um Fichtenstammholz. Das dürfte als Straßenbegleitgrün an den Bundesfernstraßen und den Landesstraßen eher die Ausnahme sein.
• Zum zweiten wird der Gehölzschnitt in aller Regel während der laufenden Arbeiten gehäckselt und als Biomasse wieder vor Ort in den ökologischen Kreislauf zurück geführt.
• Zum dritten ist und war Straßen.NRW anders als der Landesbetrieb Wald und Holz, der zum Umweltministerium gehört, nie Vertragspartner von Klausner.
Über den Stand des Rechtsstreits zwischen dem Land NRW und der Firma Klausner hat die Umweltministerin dem Landtag zuletzt im August 2018 berichtet. Den Bericht finden Sie hier:
https://landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-1020.pdf;jsessionid=07CD1AF7B098949B25094DDE0D7B68AA.xworker

Die zuständige Niederlassung von Straßen.NRW berichtet über die Maßnahme an der B70 zwischen Wesel und Brünen, dass dort ganz normaler Gehölzschnitt und „auf den Stocke setzen“ wie in den einschlägigen Regelwerken beschrieben, stattgefunden hat. Die Grundlagen für die Gehölzpflege an Straßen sind in der Richtlinie „Hinweise für die Gehölzpflege an Bundesfern- und Landesstraßen in Nordrhein-Westfalen - Ausgabe 2013“, die gemeinsam von Umwelt- und Verkehrsministerium erarbeitet wurden, festgelegt (s. Anlage).

Zum Thema Gehölzpflege hat der Landesbetrieb Straßenbau NRW auf seinen Webseiten umfangreiche Informationen bereit gestellt:
https://www.strassen.nrw.de/de/umwelt/gehoelze-an-strassen/gehoelzpflege.html
Dort finden Sie auch die Pressemitteilung vom 01.10.2018 „Stufenschnitt am Straßenrand: Straßen.NRW startet in die Gehölzpflegesaison 2018/19“ mit der Liste der Maßnahmen, in der auch der von Ihnen angesprochene Streckenabschnitt an der B70 enthalten ist.
https://www.strassen.nrw.de/de/presse/meldungen/2019/stufenschnitt-am-strassenrand-strassen-nrw-startet-in-die-gehoelzpflegesaison-2018-19-4976.html
Als weiteres Infomaterial ist dort sowohl ein Video zu der Thematik https://www.youtube.com/watch?v=RbKLMjLE-RQ wie auch eine Broschüre „Kinderleicht erklärt“ verlinkt:
https://www.strassen.nrw.de/files/oe/umwelt/gehoelzpflege/20181005_strassen_nrw_gehoelzpflege_strassenbaumgeschichte_02.pdf

Trotz dieser, wie ich meine, sehr umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit, kommt es immer wieder zu Missverständnissen und Beschwerden. Dabei ist doch eigentlich vollkommen klar, dass bei Straßenbegleitgrün in aller erster Linie die Sicherheit im Vordergrund steht. Gehölze und Sträucher entlang der 2.250 Kilometer Autobahnen, 4.440 Kilometer Bundesstraßen und 13.100 Kilometer Landesstraßen werden gepflanzt und gepflegt, weil sie wichtige Funktionen erfüllen: verkehrstechnisch dienen sie als Sicht-, Blend- und Windschutz; bautechnisch helfen sie unter anderem Böschungen zu sichern; gestalterisch dienen sie der landschaftsgerechten Einbindung der Straße. Sie haben keine, auch wenn das gefühlt oft anders ist, Lärmschutzwirkung. Und die notwendige Pflege, weil Sträucher und Bäume nun einmal wachsen, kann anders als im heimischen Garten nicht mit Rosenschere und Handsäge geschehen.

Auch an der B70 werden Sie erleben, dass spätestens in der übernächsten Wachstumsperiode wieder eine ansehnliche Hecke aus den auf den Stock gesetzten Sträuchern und Bäumen entsteht."
 
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Unsere Redaktion forderte ihre Facebook-Community auf, ihre Fotos von plattgeholzten Orten  zu posten. Das Ergebnis Sder Aktion sehen Sie in der Bildergalerie zu diesem Beitrag.

Bürgerreporter Axel Schepers dokumentiert den Kahlschlag rings um den Hamminkelner Ortsteil Ringenberg in einer Bildergalerie.
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Weitere Infos von Thomas Traill (BSKW): "Man kann natürlich darüber streiten, ob bzw. in welchem Maße Grünschnitte verhältnismäßig sind. Die Alternative ist, dass man sie unterlässt. Als Naturschützer sehe ich gerne mehr Wildnis, aber am Straßenrand ist sie wegen der Verkehrssicherungspflicht schwer durchsetzbar. (...)
Wichtig wäre für die Natur jetzt, dass zumindest dort, wo keine Verkehrssicherungspflicht besteht, möglichst viel Unterholz, liegendes und vor allem stehendes Totholz erhalten bleibt --vom Wald bis zum Stadtpark bis zum privaten Garten. Natürlich gibt es die Pflicht z.T. auch dort, allerdings nicht da, wo keine Wege verlaufen. Ein Wald, aus dem sterbende und tote Bäume weggeräumt werden, verliert einen großen Teil seiner Lebensvielfalt. Pilze, Moose, Insekten, Flechten, diverse Vögel und viele andere Organismen profitieren von stehendem Totholz. Dafür würde ich gerne mehr Einsatz sehen!
(...)
Um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten, ist der Schnittzeitraum gesetzlich auf die Herbst- und Wintermonate (Oktober bis Februar) beschränkt. In diesem Zeitraum brüten nur ausnahmsweise Vögel. Kleinsäuger und Amphibien haben ihre Winterquartiere unter der Erde. Sie sind also wenig betroffen, solange die Stümpfe stehen bleiben und die Bodendecke nicht aufgebrochen wird. Betroffen sind in erster Linie die Pflanzen selbst, die aber aus den Stümpfen nachwachsen, sowie Kleinstlebewesen, die auch im Winter unter ihrer Rinde leben. So ein Strauch im Herbst noch Beeren trägt, ist er außerdem eine Futterquelle für Tiere und damit auch besonders wertvoll. Gerade bei solchen Streifen ist es für die Natur sinnvoll, mit dem Schnitt so lange zu warten, bis die Früchte verzehrt oder gefallen sind.
Anderes ist es bei großen Bäumen mit abplatzender Rinde und Raum für Höhlen. In Ihnen können Fledermäuse und andere Säuger überwintern und vor einer eventuellen Fällung muss überprüft werden, ob das der Fall ist.
"

Autor:

Dirk Bohlen aus Hamminkeln

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