Ich will Deutschland nicht verlieren.

Chemnitz ist ein Symptom.

Das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, war für mich, seit ich denken kann, ein kollektiver Verortungsversuch in Geschichte und Weltgeschehen. Es war ein Land der Diskussion, ein Land des sich Eichens am Anspruch, es besser zu machen. Eines, das sich kollektiv finden musste, nachdem es sich kollektiv verlor. Ein Land, das um den Balanceakt kämpfen musste, nie das Zurückschauen zu vernachlässigen, um sicher zu sein, dass es vorwärts in die richtige Richtung geht und nie so sehr in eine Zukunft zu drängen, die keine Rücksicht auf die Vergangenheit zuließe. Es war ein Land mit Schuldkomplex, ja. Aber dieser Schuldkomplex war auch ein Knoten im Taschentuch, der an Verantwortungsgefühl und Demut erinnerte. Und es war ein Knoten im Hals, der nur durch freiheitliche Luft umflossen werden konnte.
Das war mein Deutschland.

Ich wuchs in einer Zeit auf, in der die Träger der Erinnerung sich von der Erde, die ihnen das Leben zur Hölle machte, verabschiedeten und Alles darum gaben, in Erinnerung zu bleiben.
Ich hatte Glück, dass ich nach dem Dritten Reich geboren wurde, dass ich die Pluspunkte des Pluralismus am eigenen Erfahrens-Horizont sehen durfte.
Mein Erwachsen werden fiel in eine Zeit, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Leben um des Lebens willen zu stärken.
Das war der Anspruch, der sich aus bitterer Erfahrung speiste. Und der mich froh und dankbar machte, in der besten aller möglichen Epochen zu leben.

Wer sich auf Bewährung fühlt, ist sein eigener Ankläger und Verteidiger, einer, der sich in einem Werteschaffensprozess ständig am positionieren ist, der sich bewegt und deswegen kein ideologischer, steinharter Klotz sein kann.

Diese Zeit ist augenscheinlich vorbei.
Stattdessen wird ein Kampf um die Deutungshoheit darüber geführt, wann die »gute alte Zeit« am Besten war, und die Vorschläge dazu scheinen immer stärker in eine Zeit zu gehen, wo »Stärke« eben Alles war. Rohe, wütende, eifernde Stärke — als Ankerpunkt der hassenden Seele.

Bin ich von der Zeit überholt worden? Bin ich ein kulturhistorisch und politisch Zurückgebliebener?
Es wird heute nicht mehr gesucht. Es wird gesagt, dass gefunden wurde. Vorbei, die Zeit des Nachsinnens und verstorben, die Zeit des Abwägens. Und der unbedingte Handlungswille überschneidet sich mit einem riefenstahlesken Triumph des Willens.

Es hat sich verändert.
Deutschland liegt auf dem Krankenlager. Es schwitzt. Es wähnt sich in einem grippalen Infekt, belastet durch fremde Antikörper — doch es leidet in Wirklichkeit an einem Tumor, der blutsdeutsche Metastasen ausbildet, der den selbsternannten »Volkskörper« durch Überfremdungspanik überfordert und davon ablenkt, dass es Fremdheit von der gemeinsamen Übereinkunft »Nie wieder« bedeutet, sein ethnologisches Selbst als Mustergültigkeit zu glorifizieren. Es windet sich, es verkrampft sich. Deutschland liegt da, starrt an die Decke und fragt sich, wie lange es noch hat.

Hetzjagden und Verleumdungen, Verächtlichmachungen und Missgunst wurden zur politischen Kriegslist erhoben und vereinen Menschen, die sich von diesem Land getrennt haben, weil sie ein anderes Land haben möchten – eines, das so programmiert ist, wie es schon mal programmiert war, und wie es dadurch abgestürzt ist und das ganze System neu aufgesetzt werden musste.

Wir verlieren Frauen und Männer und Mütter und Väter und Kinder an einen Gesinnungsrausch, der die fundamentalste Sünde des Homo Sapiens hervorbrachte — der "weise Mensch", der plötzlich Gaskammern als Lösungskonzept baute.

In diesen Tagen kommt es einem Bilderbuchzynismus gleich, dass das Deutsche Wappentier, der Bundesadler, von sich aus gesehen nach rechts schaut.
…Und es steht eine Frage im Raum, und sie juckt sich unschlüssig am Kinn: blickt der Adler streng missbilligend oder liebäugelnd in diese Richtung?

Nachtrag:
In jedem Land dieses Planeten gibt es Menschen, die als Kinder mal, bei einem Ausflug oder weil sie sich verlaufen haben, in einer Antagonistenfabrik mit dem Kopf im Geländer stecken geblieben sind. Manche wurden auch von ihren Eltern bewusst übers Wochenende in den Produktionshallen dort ausgesetzt und eingesperrt. So wird man eben zum ×××setzen Sie hier Ihre Lieblingsbezeichnung für verdammt schlechte Menschen ein×××. Und diese Individuen sind nun dafür verantwortlich, dass sich der Leidfaktor im Leben so schlecht senken lässt.
Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Menschen Gelegenheit bekommen, in die Welt einzugreifen, die Welt zu verändern, Macht zu empfangen. Auf keiner Seite der Extreme dürfen wir die Antagonisten der Menschlichkeit tolerieren. Die Hassprediger in den Moscheen und die Hassprediger der Rechten sollen sich selbst in ihrem Hass verzehren und im Feuereifer selbst verglühen. Ich schaue zu und der Feuerlöscher bleibt originalverpackt und versiegelt. Und die Gesellschaft besinnt sich derweil auf ihre Grundfunktion: die Wehrlosen schützen, die Stummen verteidigen, die Kleinen hoch heben. So eine Gesellschaft stärkt sich selbst, um gesund zu bleiben, und strebt nicht nach machthungriger Stärke, um ethisches Siechtum zu kaschieren.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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