Wie sich Pflegepersonalstände, Coronazwänge und politisch gewollte Vorgaben widersprechen
"Man sollte keine Panik machen - aber das System kann schon morgen kippen!"

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Momentan kursiert in den Sozialen Medien ein Video - aufgenommen im Klinikum Fürth - das eine aktuelle Streitfrage thematisiert: Sind die vom Bundesgesundheitsministerium angesetzten Strafzahlungen fürs Aufweichen der Pflegepersonaluntergrenzen ethisch vertretbar?

Der Medizinische Direktor, Dr. Manfred Wagner, plädiert angesichts der Krisenlage (Erkältungswelle und Corona) für die Aussetzung der Strafzahlungen, um die Patientenversorgung nicht zu gefährden und das Pflegepersonal nicht „doppelt zu bestrafen“ (Überbelastung und Bestrafung). Er erklärt eindrücklich, dass es (in diesem Fall im Raum Nürnberg/Erlangen/Fürth) Richtmaße für Patientenaufnahmen und Pflegepersonal gibt, um die Versorgung der Patienten zu sichern. Anders ausgedrückt: Wie viele Patienten darf ein Krankenhaus auf der Basis der Anzahl seiner Pflegekräfte aufnehmen?
Und: Natürlich nehme seine Klinik über diese Richtmaße hinweg weitere Patienten auf, weil es die aktuellen Zwänge eben erforderten. Es kann und darf nicht sein, dass wir dafür bestraft werden, dass wir in einer kritischen Situation über unsere Belastungsgrenzen gehen, um die Patientenversorgung sicherzustellen!", stellt Wagner klar. Zweimal stellt er in seinem Appell, das Video rasch zu verbreiten, die Frage: "Wie krank ist eigentlich unser Gesundheitssystem?"

Pflegepersonaluntergrenze (PPUG)

Die Pflegepersonaluntergrenzen (PPUG) sollen einen Mindeststandard an Pflege sichern. Die vom Bundesgesundheitsministerium erlassene Vorordnung trat am 1. Januar 20219 in Kraft. Durch diese Verordnung wird die Aufnahmekapazität von Krankenhäusern begrenzt. Ein Pflegekraft-Patienten-Schlüssel definiert, wie viele Patienten mit den vorhandenen Pflegekräften auf einer Station behandelbar sind. Das Problem dabei: In vielen Kliniken fehlt Personal. Belegen die Krankenhäuser über den Schlüssel hinaus Patentenbetten, um ihre Kosten besser decken zu können, drohen ihnen Strafzahlungen.
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Bei nicht, nicht vollständiger oder nicht fristgerechter Übermittlung einer Quartalsmeldung ist ein pauschaler Vergütungsabschlag in Höhe von 20.000 Euro zu vereinbaren. (Quelle: Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, InEK)
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Unsere Redaktion bemühte sich um Statements aus den Geschäftsführungen der Krankenhäuser in der Region.  Lesen Sie hier die Stellungnahmen der Veranwortlichen. 

Ingo Morell (Mitglied der Geschäftsführung Gemeinnützige Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe mbH, St. Vinzenz Hospital Dinslaken): "In NRW ist die Situation ja noch nicht so schlimm. Aber wir wissen alle, was mit Corona auf uns zu kommt." Generell sei er gegen Panikmache, wolle aber betonen, dass das System schon morgen kippen könne. Morell: "Die Personaluntergrenzen sind statistische Vollkräfteanhaltszahlen, die leider nicht den akuten Pflegebedarf widerspiegeln. Die Personaluntergrenzen werden für Fachabteilungen unterschiedlich definiert. In der jetzigen Phase sind besonders die Intensiv- und Kinderklinikbereiche besonders sensibel, da im Zweifel Patienten nicht aufgenommen werden könnten.
Grundsätzlich hält die GFO die Stärkung der Pflege auch mit gesetzlichen Vorgaben für richtig. Derzeit besteht aufgrund der Refinanzierung auch kein Anreiz im Bereich Pflege zu sparen. Falls sich die Lage in unserem Bereich analog zum Süden der Republik entwickelt, werden Personaluntergrenzen zum Problem. Das ist dann der Krisensituation geschuldet. Mit steigenden Inzidenzzahlen steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Krankenhauspersonal infiziert und ausfällt.
Das Vinzenz Krankenhaus hat derzeit kein Problem mit den Personaluntergrenzen. Das kann sich aber aufgrund der aktuellen zunehmend angespannten Lage schnell ändern."

Sylvia Guth-Winterink (zentrale Pflegedirektorin der pro homine Krankenhäuser, Marien-Hospital Wesel und St. Willibrord-Spital Emmerich): "Bisher konnten die Pflegepersonaluntergrenzen sowohl im Marien-Hospital als auch im St. Willibrord-Spital immer eingehalten werden, auch während der Corona-Pandemie; zeitweilige Lücken in der Personaldecke konnten durch den Einsatz von Personaldienstleistern geschlossen werden; folglich wurden keine Strafzahlungen fällig.
Sollte die weitere Entwicklung der Corona-Pandemie dazu führen, dass die Personaluntergrenzen in der Pflege nicht immer eingehalten werden können, ließe sich das ja mit Verweis auf die Versorgung zusätzlicher Patienten begründen; ich gehe davon aus, dass die Strafzahlungen dann ausgesetzt würden."

Jessica Reinartz (Leitung Marketing und Unternehmenskommunikation Evangelisches Klinikum Niederrhein gGmbH Heike Lütfring (EK, Pflegedienstleitung): "Das Evangelische Klinikum Niederrhein als Maximalversorger im Gesundheitswesen mit seinen fünf Standorten in Duisburg, Oberhausen und Dinslaken hat das Bestreben, die Patienten/innen bestens medizinisch und pflegerisch an 356 Tagen rund um die Uhr zu versorgen. Dies ist unsere oberste Prämisse. Das Wohl der Patientinnen und Patienten steht bei uns an oberster Stelle. Aufgrund dessen weisen wir keine Erkrankten ab. Unter der jetzt zunehmenden Belastung durch an Covid-Erkrankte müssen wir nun auch noch die Last der Strafzahlungen tragen.
Wir plädieren Angesicht der Krisenlage für das Aussetzen der Strafzahlung und appellieren an die Politik endlich den zahlreichen Stimmen aus den Krankenhäusern Gehör zu schenken. Wir setzen unser Pflegepersonal dort ein, wo es für die Versorgung der Patienten/innen am wichtigsten ist - und achten dabei nicht auf die Personaluntergrenzen. Der Fokus aller fünf Krankenhäuser im Verbund ist die   kompetente, menschenwürdige und zugewandte Versorgung aller Erkrankten und auf das Wohl unserer Angestellten zu achten, die in dieser Pandemie bis an ihre Grenzen gehen und darüber hinaus – und diese  Priorität sollte auch der Politik am Herzen liegen, anstatt Sanktionen gegenüber den Krankenhäusern im Land zu verfügen. Wir sprechen uns damit energisch gegen die Strafzahlungen aus."

Jörg Rebhun (Leitung Pflegemanagement EVK Wesel): "Prinzipiell finden wir ein Bemessungssystem für Pflegepersonaluntergrenzen (PpUGV) in Ordnung, sofern diese die Patient:innenen-Versorgung tatsächlich fachkundig sicherstellt.
Wie in allen anderen Berufsgruppen auch, kann es im Bereich der Pflege, wie auch bei Ärzt:innen, zu Quarantäne-Ausfällen kommen, wenn beispielsweise Kinder infiziert aus Schule oder Kindergarten zuhause bleiben müssen. Eine große Belastung, die in der aktuellen Situation zusätzlich in allen Bereichen kompensiert werden muss. Alle Kolleginnen und Kollegen sind im Sinne einer guten Patientenversorgung trotzdem sehr bemüht, die Strukturen aufrecht zu erhalten. Was Unverständnis hervorruft ist die Tatsache, dass trotz der großen Belastung der Bereich der Pflegenden durch Strafzahlungen sanktioniert wird."

Hier der Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=TWSCwm2JAeg

Autor:

Dirk Bohlen aus Hamminkeln

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