Gen-Mais war gestern
Versuch einer Schockverarbeitung bezüglich der CRISPR-Kids

Mit CRISPR/Cas9 die rote Linie überschreiten

Der chinesische Wissenschaftler He Jiankui hat (wahrscheinlich) mithilfe der noch jungen DNA-Editierungstechnologie CRISPR/Cas ein Gen deaktiviert, dass dem HI-Virus als Medium der Vermehrung dient. Mit der Entfernung und Schließung dieser biologischen Sicherheitslücke hemmt er (also angeblich, wenn es denn stimmt) den immunologischen Raubzug, der als Aids-Erkrankung in die Geschichte der Welt eingegangen ist und bisher 35 Millionen Menschen hinweg raffte.

Nun hat He Jiankui diese Behandlung nicht in zwei Petrischalen mit der Aufschrift 测试 1 & 测试 2 ("Test 1 & Test 2") durchgeführt und Datensätze davon in der Zeitschrift Science veröffentlicht oder darüber getwittert. Er ging einen Schritt weiter. Eigentlich ging er einen ganzen Weg weiter. [Wenn er denn weiterging — der Konjunktiv des Unbestätigten glimmt immer noch in ungläubigen Gesichtern nach.]
Er manipulierte nach eigener Aussage die Gene der beiden Zwillingsmädchen Lulu und Nana. Die Veränderung der betreffenden Gensequenz ist nicht nur dauerhafter Natur, sondern auch vererbbar. Das Erbe seiner Forschung wird also über Generationen anhalten. Wenn… Wenn das alles der Wahrheit entspricht, wäre er der Schöpfer HIV-resistenter Menschen.
Mit Eva 1 und Eva 2
über kurz oder lang
zur Menschheit 2.0.
Und dieser Gott ist ein Chinese.
Wenn der Papst das rauskriegt…

Seine Universität leugnet, davon gewusst zu haben. Forscherkollegen beklagen, nicht informationell eingebunden worden zu sein.
Und die Nachprüfbarkeit dieser erst vor vier Tagen öffentlich gemachten Aktion bewegt sich derzeit immer noch auf dem Niveau von Russells Teekanne.

Alle sind am schnappatmen, sprechen vom Verrat des Wertekodex' und prangern Unverantwortlichkeit im Superlativ an. Zudem soll er mit dieser Aktion gegen Gesetze verstoßen haben.

Peter Darbrock vom Deutschen Ethikrat urteilt, hierbei handele es sich um einen Super-GAU. Diese Formulierung ist insofern sinnentstellend, dass ein GAU ein »größter anzunehmender Unfall« ist — während es sich hier aber nicht um einen Unfall, sondern um ein Kalkül handelt, dass im Vollbesitz geistiger Fähigkeiten und technischer Möglichkeit ausgeführt wurde. Und dann »Kinder« als Unfall zu bezeichnen — da hat der Fundamentaltheologe fundamental versagt. O, sein Gott! Aber das nur am Rande. [Es ist ein großes Thema, das hat eine Menge Rand drum herum.]

Gehen wir jetzt mal davon aus, dass He Jiankui die Wahrheit sagt. Ganz unabhängig davon, dass sein Name in jedem zukünftigen Geschichtsbuch in Fettdruck auftauchen wird, ist es vor allem der Zustand der Menschheit, der durch seine Person einem riesigen Paradigmenwechsel unterworfen wurde: molekularer Selbstoptimierung wurde der Utopie-Zustand gestrichen. Das ist jetzt Realität. Und das transhumanistische Zeitalter begann mit seinem Youtube-Video der Bekanntgabe. Vielleicht ist das Jahr 2050 schon das 32 n. Ji.

Es ist, wie live dabei zu sein, wie die soeben erfundene Dampfmaschine mit Hello Kitty-Dekor als mobiler W-Lan-Hotspot durch strukturschwache Gegenden fährt und dabei Stickstoffdünger und Sojasamen transportiert, um den frisch eröffneten Jurassic Park zu begrünen, damit die aus Hühnervögeln rückgezüchteten Dinosauer was zu futtern haben. Oder etwas nüchterner ausgedrückt: noch mehr überrumpelnde Progressivität kann man sich kaum vorstellen.

Wäre die genetische Technologie »natürlich« gewachsen, hätte das Klonen eigentlich die erste Station sein sollen. Beim Klonen wird Leben »nur« in seiner Anzahl manipuliert, jedoch nicht in seiner Art. Dies hätte schon als Initialzündung für den notwendigen und überfälligem Diskurs gereicht. "Jetzt wird es ernst", hätten dann die Leute phrasiert. Aber jetzt ist es ernst. Und die bisher versäumte Entscheidungsfindung wurde gewaltsam — durch zwei unschuldige Babys — zur verpassten Vergangenheit verwandelt.
Das ist dreist, ohne Frage. Und wird viele Menschen arg überfordern.

Wenn sich dieser Mann dem Gesetzesbruch strafbar gemacht hat, soll er ein ordentliches Gerichtsverfahren bekommen und soll dementsprechend verurteilt werden. Nicht, weil ich es ihm gönnen würde oder weil er es verdient hätte, sondern weil so etwas das jetzige einschneidende kollektive Erlebnis der menschlichen Geschichte verlangt. Die bisherigen Gesetze gelten für auch für ihn. Ob diese Gesetze angebracht oder rückständig realitätsverleugnend waren, wird die Zeit und die Gesundheit der beiden Mädchen der ganzen Welt zeigen. Entweder hat er dann im Nachhinein eine gerechte Strafe bekommen — oder er ist zum anstößigen, aber wegweisenden Märtyrer geworden.

Philosophisch betrachtet wohnen wir so oder so einer neuen Schöpfung bei. Sie ist nicht selbstbestimmt, denn sie kommt ohne die Frage: "Willst du mit mir so weit gehen?" daher und präsentiert stattdessen vollendete, stoffwechselnde Tatsachen im Anlitz des Kindchenschemas.

Aber das Letzte, was jetzt hilft, ist die Verteufelung von Wissenschaft und Argwohn gegenüber ihren Technologien. Wir müssen uns eingestehen, dass wir als Gattung nun nicht mehr nur die äußere Natur kontrollieren (woraus wir erst unseren mächtigen Status erlangten), sondern auch über die molekularen Details unserer Spezies, unserer eigenen Natur schalten und walten. Eine logische Konsequenz. Ab diesem Moment — nach der Vorwegnahme des ersten Males — wird es wieder passieren. Und wieder.

Angst? Nein. Angst ist völlig überzogen und huldigt nur den billigen Instinkten. Wovor soll man hier Angst haben? Designerbabys sind eine überzogene Präsentationsfläche populistischer Befürchtungen: "O Nein, bald werden sich nur noch die Reichen und Schönen blauäugige, aknefreie und hochbegabte Kinder leisten können, die dann noch reicher und schöner werden" — das ist keine Angst, sondern sinnlose Simplifizierung.
Und wenn die Menschheit sich dumm-und-dämlich-genmanipulieren würde, wäre das nicht das Schlimmste, sondern nur — bös' formuliert — ein funktionierendes Selbstregulativ. Und wenn man ganz fies wäre, spräche man in diesem hypothetischen(!) Fall nicht mehr vom Feuerbringer Prometheus, sondern von spontaner Selbstentzündung. Und aus der Asche würde Neues erwachsen. »Planet der Affen« oder so. Gunther von Hagens hat ohnehin schon »den Menschen« durchplastiniert und auf seinen Ausstellungen die Supervision der populärwissenschaftlichen, pseudoästhetischen Selbstbeschau erfunden. Die nächsten Herren und Herrinnen der Erde werden die (eventuell vorhandene) Stirn runzeln und sich wundern: "wie konnten die nur so lange überleben, so ganz ohne Haut? Iiihhh…!".

…So. Jetzt is'es abgearbeitet. Aber noch nicht verarbeitet…

Einfach nur Ruhe bewahren.
Und Lulu und Nana ein gutes Leben wünschen.
Der Rest passiert von ganz allein.
Er passiert einerseits in Laboren.
Und anderseits in unseren Herzen.
Vielleicht ist beides zusammen mit der Genschere dazu ein Lebenskleber für die Menschheit.

Also frage ich mal ganz bewusst optimistisch:

Wollen wir zusammen Gen?

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

6 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.