Besuch bei einer Jugendliebe, oder: mit Haken und Ösen - einmal Bretagne und zurück

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Ist lange her, unser letztes Treffen. Fast 20 Jahre. Damals bereiste ich Dich zusammen mit meiner anderen großen Liebe und zeltete an Deinen wilden Küsten. Diese beeindruckenden Kurven zwischen Mont Saint Michel und der Cote Sauvage konnte ich nicht vergessen.

Nun sah ich Dich endlich wieder und möchte aufgeschlossene Menschen an dieser Freude teilhaben lassen. Wenn Du dies liest, sei Dir sicher, meine Zeilen kommen von Herzen. Sie wurden verfasst am offenen Fenster der Wohnung im Finistère, auf der einen Seite der Duft von frischen Muscheln, Krabben und Knoblauch, auf der anderen das Rauschen des Seewindes, der durch die nahen Dünen streicht.

Als Deine Cousine uns die Tür nach Frankreich öffnete

Die Fahrt über belgische Autobahnen mit eher abschreckenden Ansichten immer gleicher Gewerbefassaden gewinnt deutlich an Spannung, als wir die Pont de Normandie bei Le Havre erreichen. Diese größte Schrägseilbrücke Europas (856 Meter lang) über die Seine-Mündung erinnert auffallend an die Weseler Rheinbrücke, stellt diese aber in ihren Ausmaßen deutlich in den Schatten.
Dahinter steuern wir liebe Freunde aus Dinslaken an, die uns nahe Gavray in ihrem selbst renovierten Häuschen erwarten. Eine willkommene Abwechslung bei der Reise durch die üppigen Waldlandschaften Deiner Cousine, der Normandie. Beim abendlichen Grillen und vor allem beim Frühstück am nächsten Morgen dürfen wir erste Eindrücke Eurer typischen Landeskost sammeln. Was soll ich sagen – wir sind begeistert! Merci beaucoup!

Zwischenstopp am Kriegsdenkmal

Frankreich feierte den berüchtigten D-Day (den Beginn der Invasion der Alliierten Anfang Juni 1944) anders als wir: Überall sind amerikanische und kanadische Flaggen gehisst, in vielen Ladenfenstern - auch in kleinen Dörfern - hängen beeindruckende Fotos, zumeist vor Ort aufgenommen in den Wochen nach dem Sieg der Invasoren. Nicht nur an der Gedenkstätte nahe St. Michel zieht sich dem Besucher angesichts Totenzahlen, Namen und anonymen Gräbern die Kehle zu. Ein erschütternder Kurzbesuch.

Ankunft am Zielort Deiner sympathischen Seeseite

Schon Zuhause hatten wir uns vorgenommen (und geübt), besser als sonst auf die Richtgeschwindigkeit zu achten. Verschiedene Freunde hatten uns gewarnt: Die Strafen für Tempoübertretungen sind tres saftisch en France. So vergeht der zweite Tag, bis wir endlich den Zielort an Deinem Gestade erreichen: ein ruhiges Fischerörtchen abseits der touristischen Hochburgen. Unauffällig schmiegt sich Lechiagat in die sandige Landschaft der Westbretagne. Herrlich anzusehen, wo Du die Felsbrocken der Eiszeit an Deinen Stränden verteilt hast! Seemenschen müssen sich hier wohlfühlen, meine alte Liebe ist neu entflammt.

Deine Sprache, Deine Menschen

Ur-Bayrisch oder norddeutsches Platt sind linguistische Besonderheiten, in denen man nicht viel von der deutschen Sprache wiedererkennt. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Bretonischen! Diese Variante entstammt dem Keltischen und passt zu den Menschen im französischen Nordwesten, wie lockere Sprüche zu Jean Paul Belmondo. Hart klingende Worte entsprechen dem Äußeren Deiner Bewohner, mon cher Finistère. Natürlich kennst Du deine Bürger, doch allen anderen Lesern erzähle ich später gerne mehr zu ihnen.

Speisen, Märkte und Häuser

Baguettes, Croissants (mit mindestens 40 Prozent Butteranteil), hunderte verschiedener Weichkäse und Dauerwürste, ein reichhaltiges Weinangebot und natürlich Frischfisch und regionale Meeresfrüchte – das sind die Speisen, mit denen Du deine Besucher umgarnst. Wer all das an einem Ort kennen lernen will, der muss Deine Märkte besuchen – überdacht als Halle (hier ein Beispiel aus Soulac/Gironde oder als open-air-Markt. Escht formidable!

Eine Extra-Erwähnung hat Dein Gebäck verdient: Wer Dich besucht, ohne Gateau breton, Gallettes, Macarons oder diverse Patisserie-Kreationen probiert zu haben, der sollte lieber erst gar nicht hier her gekommen sein! Unterm Strich bleibt die süße Erkenntnis: Deutsche Konditoren haben keinen blassen Schimmer, wie man wirklich guten Blätterteig macht.

Völlig überbewert sind in meinen Augen übrigens die allgegenwärtigen Crepes. Nicht alles, was seine Erfinder reich macht, ist auch gut! Crepes gehören für mich zu den TopFive dieser Liste.

Ebenso desolat erscheint die Bauweise der meisten Häuser an Deinen Küsten: Blätternder Putz wird durch den alljährlichen Frühlingsanstrich kaschiert. Stauwasserdrainagen auf Terrassen oder anderen Flächen sind Deiner Bewohnerschaft unbekannt. Aber vielleicht ist das ja Lebensphilosophie und ich habe bloß etwas nicht verstanden.

Musik, Kunst und Mode

Der Musikgeschmack der Franzosen ist irgendwo zwischen den Sechzigern und Achtzigern stecken geblieben. Die Begeisterungsversuche von Radio Oceane zwischen Penmarch und Concarneau prallen ähnlich schnell an mir ab wie WDR4. Auf der Frequenz Deiner Funkwellen, liebe Bretagne, wurde mir klar, warum der Grand Prix d’Eurovision zum European Song Contest umgetauft wurde.
Pardon!

Für die schlechte Musik aus der Dose entschädigt die bretonische Kulturhistorie, wie zum Beispiel bei einem Besuch in Quimper, der Hauptstadt des Finistère. Diese atmosphärisch dichte Regionsmetropole kommt wie eine Mixtur aus Heidelberg und Düsseldorf daher (natürlich hinkt der Vergleich) und steht als Beweis für die Tatsache, dass Franzosen es ungern mit Souvenirs übertreiben und stattdessen auf die angenehme Betonung von Kunst, Literatur und Mode setzen. Überall kleine Galerien, die Ortsmotive in Pastell, Tusche und Öl anbieten. Meist verkauft der/die Künstler/in selber. Tres sympatique!

Strandtage am Atlantik

Ach, Bretagne, Deine Strände! So ähnlich wie in Holland oder en Allemagne – und doch so anders. Unorganisierter, ohne Strändkörbe und –burgen. Irgendwie netter. Quer durch die Generationen treffen sich die Wellenreiter im weichen Sand des Pointe de la Torche, um auf die optimale Woge zu warten.

Man erscheint gerne nach 14 Uhr, so Mancher auch erst gegen Abend. Wenn im Norden und Süden die Erholungspanik wächst, weil man zügig duschen und zum Essen gehen will, dann hocken sich die Bretagne-Urlauber in den Sand und quatschen, dösen, essen, rauchen und tragen ihre Body-Boards von links nach rechts, um die tollste Welle zu finden. Dabei sollte hier niemand ins Wasser gehen, der nicht gerne mal einen Mund voll Salzwasser schluckt. Die Wogen kommen oft unerwartet und höher als man glaubt.

Französisch leben, das bedeutet à la plage: später erscheinen – aber immer noch rechtzeitig. Frühabends ohne Hektik am Atlantikstrand, das ist entspannender Urlaub! Und das sogar auf durchweg kostenlosen Parkplätzen, genau so wie in den Städten.

Sympathischer Nachtregen

Dafür bin ich Dir besonders dankbar, mon cherie: Geregnet hat’s immer nur nachts. Keine Ahnung, wie Du das machst, aber selbst als Fan nordseetypischer Sommerfrische hätte ich's blöd gefunden, wenn die Wassermassen tagsüber vom ciel Breton gefallen wären. Das schraubt die gefühlte Temperatur doch gerne mal auf Vorweihnachtsniveau runter. Und obwohl die braungebrannten Menschen, Einheimische und Touristen, ständig in kurzen Hosen rumlaufen, muss man doch eines schlichtweg zugeben: Ob August oder nicht – es kann verdammt kalt werden an Deinem Busen, Du meine rauhe Bretagne.

Wovon viele Deutsche keine Ahnung haben

Deutsche glauben ja immer gerne, sie seien in vielem unschlagbar. Wenn wir allerdings ehrlicher zu uns selber wären, würden wir schon bei A wie Autofahren zugeben müssen: die Franzosen können das besser als wir! Völlig problemloses Ein- und Ausfädeln in zweispurigen Kreisverkehren diene Andersdenkern als Beispiel!

Um das schlechte Gewissen zu beruhigen, pflegt der Deutsche nach Leibeskräften die Mär vom arroganten Franzosen, der kein Wort Englisch oder Deutsch sprechen kann (oder will) und die teutonischen Touristen am langen Arm zappeln lässt, wenn sie vor ihm stehen und etwas brauchen. Kein Wort davon stimmt!

Sobald sich der Spießbürger aus Allemagne nämlich zu gebräuchlichen Grußformeln herablässt und versucht, sein Baguette auf Französisch zu ordern, hilft ihm der Bretone gerne und mit breitem, offenem Lächeln bei seinen Bemühungen. Schätze, das dürfte in der Provence ganz ähnlich sein!
Man stelle sich bloß mal vor, ein Urlauber aus Saint Malo stoppt bei der Durchreise am Niederrhein und erfragt nach einleitendem „güten Tack“ den Weg zur Autobahn – auf FRANZÖSISCH! Welcher Niederrheiner würde da nicht steif aus der Wäsche schauen und den Frager mit irritierten Blicken strafen! Also: Bretonen und Niederrheiner sind weder arrogant noch stur, sondern ständig auf der Suche nach mehr Wissen und Bildung.
Oder wie sehen Sie das?

Bezahlen wie vor 30 Jahren …

Nicht, dass Du glaubst, ich fände bei Dir alles gut und bei uns alles blöd, liebste Bretagne. Es könnte im Formulierungswahn überschwänglicher Ferienworte so rüberkommen. Da gibt’s beispielsweise diese Unart Deiner Bürger, jeden Furz mit Scheck zu bezahlen. Mit aller Seelenruhe kramen sie am Marktstand dieses Heftchen hervor, arbeiten sich durch die notwendigen Einträge und halten den Abriss nebst Ausweis am Ende dem Verkäufer hin. Und das für 12,80 Euro. Als Tourist wartet man geduldig die zwei bis drei Minuten ab und fragt sich, was Franzosen gegen Barzahlung haben, deren Abwicklung lediglich 20 Sekunden dauern würde?! Muss an die 30 Jahre her sein, dass ich in Deutschland jemanden beim Einkaufen per Scheck zahlen sah …

Abschied von der Urlaubs-Beziehung

Natürlich überwiegen die positiven Gefühle, wenn ich Dich ansehe, mon cherie! Das konnten auch Deine miesen Schlagersänger und die verbesserungsbedürftigen Reste meines Schulfranzösisch nicht verhindern. Ich fand’s schön, zwei Wochen lang nur ganz wenige Landsleute zwischen den Einheimischen und den Senioren aus good old England anzutreffen.

Deshalb schaue ich une dernière fois auf die Windtüte an der Holzstange im Garten des Nachbarhauses, freue mich über die frische Atlantikbrise, der mich die niederrheinische Sommerschwüle vergessen ließ und verspresche Dir, Du herbe Schöne mit den felsigen Küstenkurven: Wir kommen wieder, hoffentlich nicht erst in 20 Jahren!

Autor:

Dirk Bohlen aus Hamminkeln

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