Eintrag kulturelles Tagebuch: 26. April; offene Bühne und der linksdrehende Milchlaster

In Emmerich gabs neulich live und vor Publikum eine OP an der offenen Bandscheibe zu begaffen, Verzeihung, zu sehen. Da ist mir persönlich die offene Bühne im Scala deutlich angenehmer. Aber eins nach dem anderen.

Zunächst möchte ich mich öffentlich und öffentlichkeitswirksam entschuldigen. Ich möchte es nicht nur, ich muss es sogar.
Der Grund: ich hatte mal einen Mitschüler, der von der Waldorfschule kam und die Frage, ob's dort identitätsbildenden Ausdruckstanz gab, selbstverständlich und unvorsichtig ehrlich bejahte. — So viele Tanz-deinen-Namen-Witze habe ich gerissen, dass ich mich nun schäme…
Es tut mir leid.
Ich habe mich sogar stellvertretend bei einem Waldorfsalat in meinem Kühlschrank entschuldigt, nur um sicher zu gehen, dass… also ich nehme Alles von damals zurück!
Grund für meine Läuterung war eine siebte Klasse der Dinslakener Waldorfschule. Die haben ihr lyrisch-musikalisches Projekt vorgestellt, in dem sie nachdenkliche Texte und handgemachte Musik — oder handgemachte Texte und nachdenkliche Musik — in einer Art dekonstruktivistischen Phasenverschiebung, soll heißen, sauber getrennt und nacheinander vortrugen. Musik und Wort mit jeweils 100% Aufmerksamkeit. Und unter den Texten war übrigens eine deutlich griffigere Definition von Würde, als das Grundgesetzt sie zwar als unantastbar deklariert, aber ihre Definition scheut. Also ein Manifest, das Würde nicht nur poetisch definiert, sondern sie gleich auch einfordert.
Saubere Leistung.
[Rudolf Steiner, Christian Morgenstern und anderen gefällt das]

Noch ein Geständnis — wo ich schon mal aus dem Nähkästchen plaudere: Als Dreijähriger stopfte ich mir mal eine Kaffeebohne in das Nasenloch, weil ich sie nicht mehr vor mir her tragen, aber ihren Duft immernoch einsaugen wollte. Der Plan war, sie im Nasenflügel zu fixieren. Was mir damals als geniale Idee vorkam, entpuppte sich als… naja, Einatmen… Nasaler Trockenespresso quasi. Es hat mir nicht geschadet (ehrlich nicht!), aber seither ähnelt mein Verhältnis zu Kaffee dem von Dagobert Duck in Bezug auf Goldmünzen.
Ich will ja keine abstrusen Theorien in die Welt setzen, aber wenn man Ann-Kathrins Singstimme hört… die muss früher mal einen ganzen Satz Noten verschluckt haben! — Und das zur Freude aller Hörer.

…Bei der dunklen Stimme von Ralf Lukas mit seiner Akustikgitarre dazu, da hat man wiederum gleich Bilder von einer Doku über texanische Natursattelhersteller im Kopf, in der Bildsprache von Marlboro-Spots, nur ohne Zigaretten — aber so kernig country-geräuchert eben.
»Gitarre« ist auch ein Stichwort für John Soulbeck, der stimmt und spielt sein Instrument mit der Hingabe eines Sommeliers, der nach roten Beeren schmeckt.

Petra nutzte die Gunst der Stunde für die Lesung einer selbstverfassten Geschichte vom ewigen Kampf des Menschen gegen die Übermacht von Dihydrogenmonoxid*. Das Meer ist wie die »Final Destination«-Filmreihe in nass, man kann dem Schicksal nicht entkommen, und es holt sich sogar die Unversehrtheit von Zehen, was eine mediterran verortete Odyssee (das steckt doch schon das Wort See drin!) an Krankengeschichten nach sich zog. Diese hochseegebeutelten Zehen waren kurz davor, die Hauptrolle in der Serie »Death in Paradise« übernehmen zu müssen — fahren Sie niemals Boot! Es kann ja so viel passieren!

Eine offene Bühne kann zwar keine Spuren von Schalentieren und Sellerie, sehr wohl aber von Knabbernüssen und Comedy enthalten:
Thorsten Dornbach lies die Gäste teilhaben an seinen nächtlichen Träumen, in denen Udo Lindenberg und Herbert Gröhnemeier, Inder und "Ossis" (sagt man noch Ossis? Oder ist das mittlerweile genauso politisch unkorrekt, wie eine Möbelspedition "die Schlepperbande" zu nennen?), also in denen verschiedene Typen eine Bank überfallen.
(…Letzte Nacht habe ich nun geträumt, wie Comedians eine Bank überfallen, also er, der Thorsten und seine Kollegin im Geiste, Anne, die ebenfalls später auftrat. Die Sicherheitskräfte wurden mithilfe von Witzen gezwungen, sich flach auf den Boden zu legen.)
Anne philosophierte nicht nur über Doppelnamenkinder-Mütter, sondern auch über den Ästhetisierungsbedingenten Einschränkungen des männlichen Geni… ähm… Ach, sagen Sie, das ist aber auch ein Wetter und die Strompreise neuerdings auch! Wussten Sie, dass es Raufasertapeten auch in extra fein gibt, wie die Streichwurst?
[Streichwurst?!… Tolles Ablenkungsmanöver, bravo, das hat ja super geklappt, ganz toll… Streichwurst…]

Wo war ich? Ach ja, offene Bühne.

Und dann, ja dann gab es eine richtige Bühnenpremiere, die Band »The Coro« hatte im Scala ihr erstes Mal. Das »The« vor dem Coro zeigt übrigens Relevanz an, so wie bei Volkswagens »Das« Auto.
Offiziell kommen The Coro aus Alpen, aber tatsächlich kommen sie aus einem Land, das von Leadsängerinnen, Drummern und E-Gitarristen fließt, das gelobte Land von (bitte mitsingen) "I Love Rock'n'Roll", und diese Bäche der akustischen Erfrischung wurden direkt aquäduktmäßig ins Scala gepumpt.

Das Publikum konnte sich nicht auf ihren Plätzen hal… mein Gott, ist das ein abgegriffener, klischeehafter Satz. Aber es stimmt! Sogar der Beamer mit dem Scala-Logo hat mitgewippt, ich hab's doch gesehen!

Wenn ich mal von einem linksdrehenden Milchsäure-Tanklaster überfahren und wiedergeboren werden sollte, möchte ich gern der Kupferdraht sein, der diese Band durchleitet und abspielt. Ehrlich! Das Leben wäre eine einzige Party.

Die Dame und die drei Herren waren kein Highlight — sie waren das Highloud!

Ich sehe grad, mein aktuelles Kontingent an Wortspielen ist nun aufgebraucht, ich mach' hier mal Schluss, nur kurz das Resümee des Abends:

keine Tanzdeinennamenwitze mehr, und vermeiden Sie verschluckbare Kleinteile (es sei denn, es wäre talentförderlich) und singen Sie beherzt mit:

I love rock'n'roll
So put another dime in the jukebox, baby...

Man liest sich
TiK

*auch bekannt als Wasser

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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