Inklusion Behinderter in das allgemeine Schulsystem - bis zum Abitur

Einleitung
Korrekt ist die folgende Feststellung Herr Professor Dr. Markus Dederichs aus dem Jahre 2006: "Die Behindertenpädagogik birgt die Gefahr zu Totalisierungen, zur Produktion und Legitimation von Normalisierungseffekten und gesellschaftlichen Ordnungen, die das Außerordentliche und Singuläre ausschließen und so an der Pathologisierung und Marginalisierung von Menschen mitwirken. Sie ist historisch gesehen auf kaum entwirrbare Weise zugleich Sachwalterin und Kritikerin der historisch-gesellschaftlichen Konstruktion und Verbesonderung von menschlichem Behindertsein. Deshalb muss sie immer wieder einer radikalen Kritik unterzogen werden, etwa der Kritik, wie sie durch Menschen mit Behinderungen [...] formuliert wird" (ders. 2006, 107).

Zur Sache
Immer wieder höre ich, dass nicht jede und jeder das Abitur machen muss. Das muss auch sicher nicht jede und jeder. Aber gerade diejenigen, die mit einer Behinderung leben und denen ich die höchste Bildungsqualifikation, was schulischerseits die Absolvierung des Abiturs bedeutet, empfehle - und Frau Professorin Dr. Kerstin Ziemen hat das am 29. September 2012 auf der Tagung "Fachdidaktik inklusiv" in ihrem Vortrag an der Universität zu Köln ja auch gesagt - sind von isolierenden Lebensbedingungen (Frau Professorin Dr. Kerstin Ziemen nannte die Isolation mit Bezug auf Herrn Professor Dr. Wolfgang Jantzen eine Kernkategorie von Behinderung) betroffen. Inklusion - und das ist eine "auf Anerkennung und Differenz basierende menschliche Gemeinschaft," wie Herr Professor Dr. Georg Feuser es 2010 in einem Beitrag auf Seite 18 formuliert hat - soll die Isolation überwinden!
Nach der Tagung traf ich am Bahnhof Köln Messe/Deutz zwei ehemalige Mitschüler. Beide Ehemaligen leben, wie ich, mit den Folgen einer schweren Hirnverletzung. Beide haben an der Anna-Freud-Schule, einer Schule für Körperbehinderte, wie ich, in den 1990er Jahren das Abitur gemacht. Mit dem Abitur standen uns auf dem tertiären Bildungsfeld alle Wege offen. Wir haben alle drei an einer allgemeinen Universität bzw. Fachhochschule studiert, konnten also alle drei vor der drohenden Arbeitslosigkeit noch Bildungskapital oder symbolisches Kapital - und es ist symbolisches Kapital, weil es zunächst einmal nicht zu fassen ist und sich aus kulturellem und sozialem Kapital zusammensetzt - anhäufen. Mit diesem symbolischen Kapital müssen wir nun behinderungsbedingt, aber glücklicherweise dann doch zu einem recht späten Zeitpunkt, unter ausschließenden Bedingungen ein Leben in der Isolation führen. Andere Behinderte müssen, auch wenn sie schulischerseits bis zum Abschluss der Sekundarstufe I Inklusion erfahren haben, u. U. viel eher ausschließende Berufserfahrungen in Sondereinrichtungen - und die krasseste ausschließende Berufserfahrung wird meines Erachtens in der Werkstatt für behinderte Menschen durchgeführt - machen, da die Inklusion mit Beendigung der Schulausbildung dann auch endet. Letzteres ist sehr schön dokumentiert in Hella Wenders Film "Berg Fidel - Eine Schule für Alle." Hier ist die Sonderbeschulung einiger Protagonisten dann nach Beendigung der Inklusion in der Grundschule schon garantiert. Und das ist dann sehr, sehr bitter!
Mein Fazit lautet also: So lange die Inklusion sich so verhält, wie ich sie derzeit als ausschließend wahrnehme - nämlich mit Bezug auf Artikel 24 der Vereinbarung über die Belange der Menschen mit Behinderung - so lange ist behinderten SchülerInnen aus meiner Sicht nur eine möglichst hohe schulische Qualifikation zu empfehlen - und das ist dann die Empfehlung zur Allgemeinen Hochschulreife hin. Mit dieser Allgemeinen Hochschulreife, einer wissenschaftlichen Hochschulausbildung und damit der Anhäufung symbolischen Kapitals, wird es den Behinderten möglich sein, gegen die aktuell herrschende Inklusion aufzubegehren - und sie tun das dann, weil Bildung Macht ist! Dies ist dann das, was Herr Professor Dr. Markus Dederich in seinem o. g. Artikel auf Seite 104 mit Repräsentation im Sinne von Stellvertretung meint, wofür Behinderte eintreten. "Hier taucht vor allem die Frage auf, 'woher die vertretende Instanz die Autorität nimmt, für andere zu sprechen und zu entscheiden' [...] - [...] dies eine Frage, die insbesondere behinderte Menschen selbst auf eindringliche Weise an unsere Wissenschaft zu richten (und das ist die Behindertenpädagogik - CR) begonnen haben." Zurück zur Macht: Ein früherer Freund hat mich nachdem ich promoviert wurde früher einmal, mit Bezug auf einige Passagen in meiner Dissertation, als mit Herrschaftswissen ausgestattet bezeichnet. Wissen ist mit Macht gekoppelt. "Wissen zu schaffen, dient der Erreichung von Zwecken, die außerhalb des Wissens selbst liegen," wie Herr Professor Dr. Markus Dederich es in seinem oben bereits zitierten Beitrag auf Seite 100 schreibt. Wenn Inklusion nun aber weiter so betrieben wird, wie ich sie aktuell als ausschließend wahrnehme, dann ist mit einem Abitur die Isolation zwar nicht beseitigt, aber doch auf einen späteren Zeitpunkt - und dieser kann dann bis in das dritte oder vierte Lebensjahrzehnt hineinreichen - hinausgeschoben. Das Abitur bedeutet auf jeden Fall einen Gewinn für die Behinderten.

Literatur
Dederich, Markus: Wozu Theorie? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75(2006)99-109.
Feuser, Georg: Integration und Inklusion als Möglichkeitsräume. In: Stein, Anne-Dore u. a. (Hgg.): Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Möglichkeitsräume und Perspektiven. Bad Heilbrunn 2010, 17-31.

Autor:

Dr. Carsten Rensinghoff aus Witten

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