Sagen wir mal so: 8

Alle Jahre früher

O du stille Zeit – bevor das 1. Kerzlein brennt

Alle Jahre früher ergreift uns nostalgisch-adventliche Vorfreude auf das Fest der Liebe, alle Jahre wieder die althergebrachten Rituale und Gepflogenheiten, deren man keine missen möchte.
Mitte August: Am Hildener Weihnachtshaus wird Unkraut gezupft und aufgeräumt.
Ende August sind wir irritiert von der hochbepackten Flachpalette im Mittelgang bei Aldi, Lidl und Kaufpark mit frischem Butterspekulatius, begleitet von einigen Schütten mit Marzipanbroten, Dominosteinen, Lebkuchenherzen und Printen; ja selbst die ersten Dresdener Christstollen in sechs Sorten und drei Größen lugen schon aus dem Regal neben dem Vollkorntoast.
Auf dem Heimweg vom Freibad setzen wir uns immer wieder dem quälenden Kampf gegen die wetteifernden vorfestlichen Verlockungen aus, um ihnen am Ende mit dem wohligen Gefühl des „Unterliegens nach heftiger Gegenwehr“ bereitwillig nachzugeben.
Was ist vergleichbar mit vier bis zehn Stück vom herrlich krossen Mandel-Butterspekulatius zu einem Pappbecher Eistee?
Die Enkelchen würden sich eher für ein Wassereis begeistern, können aber dann zu einer Einheit Lebkuchenherzen mit Marmeladenfüllung ermuntert werden, wovon sie eins oder zwei ohne große Begeisterung naschen, bevor Großmütterchen sich den Rest des Paketes widerwillig, doch hingebungsvoll zu Gemüte führt, wegen der geschmacklich unübertrefflichen Kombination zusammen mit dem ersten Becher Glühwein.
Opa, charakterstark und den Traditionen verhaftet, weist derartige Anflüge von Disziplinlosigkeit meilenweit und entrüstet von sich. Vor Anfang Dezember kommt sowas nicht ins Haus. Allerdings fährt im Handschuhfach seines Autos schon seit Tagen ein angebrochenes Paket Dominosteine mit, deren Stückzahlen täglich variieren.
Mitte September kommt der Baumschmuck aus Geleefrüchten, Melbaglöcklein, Knickebeinen und Likörkugeln zum Angebot, und verfällt ebenfalls der allgemeinen Entrüstung und den Schwüren des Verzichtes, bis Chantal und Sascha auch hier ins Spiel kommen, einige klebrige Sternchen und Ringe kauen, damit Oma sich den Verlockungen von Cointreau und Chartreuse mit nur mäßig schlechtem Gewissen hingeben kann.
Am Hildener Weihnachtshaus stehen Gerüste, von denen aus erste erkennbare Strukturen aus Draht und Lichterketten gestaltet werden.
Früchtebrot, Berliner Brot, Zimtsterne, Weckmänner und -frauen sind willkommene Bereicherungen zum Frühstück im Oktober,
Das Christkindlein in Engelskirchen und an der Zweitadresse in Himmelspforten bekommt die Wunschzettel von Tausenden von Kleinen. Eltern und Großeltern beginnen mit den gegenseitigen Versicherungen, dieses Jahr auf diese unsägliche Schenkerei zu verzichten, man hat doch alles, und was fehlt, kann man sich auch übers Jahr kaufen.
Damit das dieses Jahr nicht wieder alles in den letzten Tagen passiert, wird gleichzeitig im Internet schon nach allen möglichen und unmöglichen Dingen gefahndet, mit denen der ahnungslose Partner unterm Lichterbaum überrascht werden soll. Der ahnungslose Partner verfährt übrigens ebenso.
Am Weihnachtshaus in Hilden werden die letzten 6 der Coca-Cola-Santa-Cläuse in unterschiedlicher Größe, und weitere 12 Rentiere, alle namens Rudolf, sturmsicher montiert und der Glühweinstand und die Reibekuchenstation probeweise zum Wochenende eröffnet.
Sankt Martin kommt, der anlassgemäße Weckmann vertrocknet zum großen Teil, weil inzwischen Baumkuchen angesagt ist.
In den Regalen der Kaufhäuser bermen sich die Sonderangebote an I-pods, Joysticks, Navys, Handys und Playstations, und allem, was Mann oder Frau unbedingt haben muss.
Kinder bekommen immer öfter Geld zum Fest. Den Kram, den sie sich wünschen, bekommen sie aus erzieherischen Gründen von den Eltern nicht, was sie sich von dem Geld kaufen, entscheiden sie selbst. „Schließlich will man ja auch nicht, das ihre Freunde etwas haben was unseren fehlt.“
Die Werbung lässt uns das nahe Fest ahnen, Busse und Bahnen in die Stadt werden voller, das Gehetzte im Gesicht der Fahrgäste wird vorweihnachtlich, so wie es sein soll.
Die Gastronomie hat alle Theken und Tische voll zu tun mit Weihnachtsfeiern von Vereinen und Betrieben, die Polizei fährt schon Extrakontrollen. Die Woche vor dem ersten Advent vergeht mit haushaltsübergreifender Planung. An welchem Festtag versammelt sich die mischpoke bei wem ? – Aber, bitte, keine Geschenke, Hauptsache wir sind mal wieder zusammen…
Was kochen wir? Ganz einfach, wie früher zu Hause. - Nein, um Gottes Willen, keine Gans / Ente / Pute.. Ganz einfach, wie zu Hause… Nicht wieder Sauerbraten…oder Wild. Vielleicht mal Fisch…Karpfen ? Und wer bringt die um ?
Auf Plätzen und Straßen werden die ersten Weihnachtsmärkte aufgebaut, und die Herbststürme prüfen die Standfestigkeit der Stände. Erstmals Stille Nacht und Jingle Bells in allen Gassen, der Klingelton am Handy wird geändert auf „O du fröhliche..“ oder „Jesu bleibet meine Freude“, Tannenbäume zählen jetzt preislich zu den Edelhölzern…
Mutter hats mit den Augen — sie kann keine Printen mehr sehen. Großvater bleibt offiziell standhaft hinsichtlich Nascherei, die Kinder essen big macs und chips, wie immer.
Im Supermarkt werden die Reste der weihnachtlichen Naschereien übersichtlich auf einer Palette zusammen geräumt, vom Zentrallager kommt nichts nach. Auf ist satt! Wer jetzt kein Spritzgebäck hat, kriegt keines mehr, wer ohne Printen ist, wird’s lange bleiben.
Nur noch vier Wochen Zeit für letzte Besorgungen. Weihnachten kommt immer so plötzlich! Endlich ist Advent. Das Radio spielt Bach.
Hilden geht auf volles Programm, bewachte Parkplätze inklusive..
Winterblues zu Hause und pflichtgemäßer Stress nach außen bestimmen diese Tage, aber gern schwadronieren wir von der Zeit der Erwartung, der Besinnlichkeit, der Vorfreude.

Autor:

Paul Scharrenbroich aus Monheim am Rhein

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

4 folgen diesem Profil

30 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.