FRÄULEIN TRUDCHEN

Fräulein Trudchen weinte sich durch sämtliche Filme, die von der verpassten Liebe erzählten. Dabei war sie nicht einmal in der Lage einem Menschen, also auch einem Mann, in die Augen zu sehen. Und schon seit frühster Jugend behaupteten ihre Eltern, sie, ihr Trudchen, leide unter „schwachen Nerven“.
Aber als ich Trudchen als das wahrnahm, was sie war, nämlich meine Tante, war sie nur noch ein trauriges Wesen, das immer im Nacken schwitzte. Selbst ihr Blutdruck, der ständige Schwindel und die Verdauung meinten es nicht gut mit ihr. Immerhin waren ihre Beine so stabil wie dorische Säulen. Da musste man nicht befürchten, dass sie vom Sofa fiel.
Wenn Trudchen aber lächelte, verzogen sich ihre Mundwinkel derart, dass man um den Halt ihres Gesichtes fürchten musste. Obwohl, dachte ich oft, vielleicht war das die Rolle ihres Lebens.
Immerhin hatten ihr die Eltern eine kleine Lebensversicherung hinterlassen. So gesehen führte sie ein bescheidenes, aber gesichertes Leben.
Irgendwann aber hatte Trudchen nur noch „Angst“. Angst vor der kleinsten Veränderung. Und so verließ sie nur noch selten die Wohnung. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie eine dieser Tanten war, die immer eine Handarbeit auf dem Schoß hielten.
Eines Tages wird sie genauso langweilig in ihrem Sarg liegen wie sie jetzt auf ihrem Sofa sitzt, dachte ich schon als Kind.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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