Mein Wort zum Wochenende – Ein kluger Richter

In seinem Buch aus dem Jahre 1838, "Sämmtliche Werke, dritter Band: Erzählungen des rheinländischen Hausfreundes" erzählt Johann Peter Hebel uns eine weitere Begebenheit:

--- Der kluge Richter
Dass nicht alles so uneben sei, was im Morgenlande geschieht, das
haben wir schon einmal gehört. Auch folgende Begebenheit soll sich
daselbst zugetragen haben: Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche
Geldsumme, welche in ein Tuch eingenähet war, aus Unvorsichtigkeit
verloren. Er machte daher seinen Verlust bekannt und bot, wie man zu
tun pflegt, dem ehrlichen Finder eine Belohnung, und zwar von
hundert Talern, an.

Da kam bald ein guter und ehrlicher Mann
dahergegangen. "Dein Geld habe ich gefunden. Dies wird's wohl sein!
So nimm dein Eigentum zurück!" So sprach er mit dem heitern Blick
eines ehrlichen Mannes und eines guten Gewissens, und das war schön.

Der andere machte auch ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er
sein verloren geschätztes Geld wieder hatte. Denn wie es um seine
Ehrlichkeit aussah, das wird sich bald zeigen. Er zählte das Geld,
und dachte unterdessen geschwinde nach, wie er den treuen Finder um
seine versprochene Belohnung bringen könnte. "Guter Freund", sprach
er hierauf, " es waren eigentlich 800 Taler in dem Tuch eingenäht.
Ich finde aber nur noch 700 Taler. Ihr werdet also wohl eine Naht
aufgetrennt und Eure 100 Taler Belohnung schon herausgenommen haben.
Da habt Ihr wohl daran getan. Ich danke Euch." Das war nicht schön.

Aber wir sind auch noch nicht am Ende. Ehrlich währt am längsten,
und Unrecht schlägt seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Finder, dem
es weniger um die 100 Taler als um seine unbescholtene
Rechtschaffenheit zu tun war, versicherte, dass er das Päcklein so
gefunden habe, wie er es bringe, und es so bringe, wie er's gefunden
habe. Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide beistanden auch hier
noch auf ihrer Behauptung, der eine, dass 800 Taler seien eingenäht
gewesen, der andere, dass er von dem Gefundenen nichts genommen und
das Päcklein nicht versehrt habe. Da war guter Rat teuer.

Aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die schlechte
Gesinnung des andern zum voraus zu kennen schien, griff die Sache so
an: er liess sich von beiden über das, was sie aussagten, eine feste
und feierliche Versicherung geben, und tat hierauf folgenden
Ausspruch:
"Demnach, und wenn der eine von euch 800 Taler verloren,
der andere aber nur ein Päcklein mit 700 Talern gefunden hat, so
kann auch das Geld des letztern nicht das nämliche sein, auf welches
der erstere ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund, nimmst also das
Geld, welches du gefunden hast, wieder zurück, und behältst es in
guter Verwahrung, bis der kommt, welcher nur 700 Taler verloren hat.
Und dir da weiss ich keinen Rat, als du geduldest dich, bis
derjenige sich meldet, der deine 800 Taler findet."

So sprach der Richter, und dabei blieb es. ---

Würde ein Richter heute so urteilen (können)?
Wohl kaum. Das Geld würde voraussichtlich konfisziert, und meldete sich kein Besitzer, so würde es – man ahnt es schon – der Stadtkasse einverleibt, minus einem mageren Finderlohn.

Aber worum es geht ist: Wenn man – getrieben von Gier – andere um die verdiente Belohnung bringen will, kann das auch daneben gehen.

Und: Man wünscht sich auch hierzulande kluge und weise Richter.

In diesem Sinne wünsche ich allen ein entspanntes, klug gestaltetes Sommerwochenende!

Autor:

Ulrich Jean Marré, M.A. aus Essen-Ruhr

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