Raus aus der Isolation: Wibke Wehner ist eine von 15 neuen Taubblindenassistenten

Die 15 Absolventen der Qualifizierung zum Taubblindenassistenten mit den beiden Projektleiterinnen Claudia Preißner (2.v.l.) und Hildegard Bruns (r.) sowie NRW-Sozialminister Rainer Schmeltzer (l.).
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  • Die 15 Absolventen der Qualifizierung zum Taubblindenassistenten mit den beiden Projektleiterinnen Claudia Preißner (2.v.l.) und Hildegard Bruns (r.) sowie NRW-Sozialminister Rainer Schmeltzer (l.).
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Mit nach oben abgespreizten Daumen hält Wibke Wehner ihre beiden geballten Hände leicht versetzt vor ihrer Brust. Diese Gebärde bedeutet Assistenz, und genau das ist die 30-jährige Bochumerin jetzt. Zusammen mit 14 weiteren Teilnehmern hat sie die einjährige Qualifizierung zum Taubblindenassistenten (TBA) abgeschlossen.

Aus ganz NRW haben hörende und gehörlose Menschen an der Qualifizierung des Taubblindenassistenzprojekts in Recklinghausen teilgenommen, um zu lernen, wie man taubblinde Menschen im Alltag unterstützen kann, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das Wort Isolation fällt immer wieder an diesem Nachmittag, an dem den Absolventen die Zertifikate im Kultur- und Freizeitzentrum der Gehörlosen übergeben werden. Und ein Selbstbetroffener, der von Geburt an gehörlos war und im Erwachsenenalter nahezu erblindete, schildert die Lebenssituation von taubblinden Menschen: „Im Haus schaffe ich es allein, aber ich kann mich nicht allein draußen bewegen. Dazu brauche ich einen Assistenten.“
„Es geht um Freizeit, um die Begleitung zu Veranstaltungen oder auch zu Arztbesuchen“, nennt Wibke Wehner einige Beispiele, die auch ihre künftigen Einsatzmöglichkeiten sein werden. Die 30-Jährige ist Sonderpädagogin an einer Schule für gehörlose und schwerhörige Schüler in Essen, und durch ihr Studium und ihre Lehrertätigkeit entstand das Interesse an der Ausbildung. Ihre nun erlernten Kenntnisse wird sie aber vorrangig außerschulisch und nebenberuflich einsetzen.

Vier Kommunikationsformen

Ein Jahr lang hat sie dazu Seminare besucht, die von Dozenten, die zum Teil selbst taub, blind oder taubblind sind, geleitet wurden. Allein vier Kommunikationsformen standen auf dem Lehrplan: Brailleschrift, Gebärdensprache, wobei die Teilnehmer bei dieser schon über Grundkenntnisse verfügen mussten, Lormen und taktiles Gebärden. „Beim Lormen entspricht jedem Buchstaben ein Punkt auf der Handinnenfläche, der angetippt wird“, erläutert Wibke Wehner. Taktiles Gebärden bedeutet dagegen, dass der Blinde seine Hände auf die des Gebärdenden legt und so fühlt, was gebärdet wird.
Auch Führtechniken hat die 30-Jährige trainiert. „Man lernt, wie man jemanden die Treppe hoch begleitet, wie man in Busse oder Züge einsteigt oder wie man sich in engen, überfüllten Räumen bewegt“, so Wehner. Zudem werden während der Qualifizierung auch psychologische Aspekte angesprochen, damit die TBA wissen, wie sie zum Beispiel damit umgehen können, wenn ein Betroffener an Depressionen leidet.

Tanzen und schwimmen

Ein besonderes Erlebnis für die Bochumerin war die Praktikumsphase, zu der eine Reha-Woche in Bad Meinberg gehörte, während der sie eine taubblinde Frau unterstützte. „Wir haben tanzen gelernt, ich habe sie auf Ausflügen begleitet, wir sind schwimmen gegangen und haben einen Computerkurs gemacht“, erzählt sie.
Gelegentlich sei sie während der Qualifizierung aber doch auf Herausforderungen gestoßen. „Wenn man manchmal nicht versteht, was der Taubblinde sagen will, ist das eine blöde Situation. Gerade am Anfang war das schwierig.“ Außerdem sei es eine Herausforderung, Wortspiele und witzige Bemerkungen zu dolmetschen. „Das ist dann für den Betroffenen gar nicht immer so lustig“, erläutert Wehner.
Für die TBA bedeutet ihre Unterstützung ununterbrochene Arbeit und Konzentration. Das zeigt sich auch während der Feierstunde. Die ganze Zeit über wird bei den Grußworten, der Podiumsdiskussion und der Zertifikatsverleihung parallel auf mehrere Arten übersetzt: ein Gebärdensprachdolmetscher steht mit auf der Bühne, jedes Wort wird mitgeschrieben und per Beamer auf die Wand projiziert, und da manche der Gäste für die Veranstaltung TBA mitgebracht haben, wird auch an den Tischen durch taktiles Gebärden gedolmetscht.

"Viel Idealismus"

„Man hat keine Pause, weil man durchgängig übersetzt“, weiß auch Wibke Wehner über ihre künftige Aufgabe. Hinzu kommt das Abholen und Wegbringen der taubblinden Menschen, wenn etwa ein Veranstaltungsbesuch geplant ist. Um solch eine Aufgabe zu übernehmen, gehört viel Idealismus dazu. „Aus finanziellen Gründen lohnt sich das nicht. Wenn die Krankenkasse es bezahlt, sind es 49 Euro pro Stunde. Wenn der Betroffene es privat trägt, sind es 60 Euro pro Tag“, erläutert sie.
Damit spricht Wehner ein grundsätzliches Problem an, denn bei aller Freude über die 15 erfolgreichen Absolventen ist vor allem der Mangel während der Feierstunde immer wieder Thema. Das Taubblindenassistenzprojekt, das vom Förderverein für hör- und hörsehbehinderte Menschen im Vest Recklinghausen getragen und vom NRW-Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales gefördert wird, hat seit 2008 in sieben Lehrgängen 95 TBA ausgebildet. Damit stellt NRW zwar mehr als die Hälfte der insgesamt 160 bundesweiten TBA, aber da es allein in NRW 1.900 Taubblinde gibt, sind diese Assistenten zu wenig.
Zudem haben die Betroffenen die Schwierigkeit, ihre Ansprüche auf Unterstützung bei den Behörden durchzusetzen. „Gleiche Anträge werden unterschiedlich beschieden“, bringt es Hermann Rietkötter, Vorsitzender des Fördervereins, während der Podiumsdiskussion auf den Punkt.

Merkzeichen Tbl

Eine gewisse Hoffnung setzen die taubblinden Menschen daher darauf, dass das Merkzeichen Tbl im Schwerbehindertenausweis zum Jahresbeginn eingeführt wurde. „Damit sind die Behörden gehalten, sich mit Taubblindheit auseinanderzusetzen“, sagt Irmgard Reichstein von der Stiftung taubblind leben.
„Politik ist leider kein schnelles Geschäft“, räumt NRW-Sozialminister Rainer Schmeltzer ein, der zu der Abschlussveranstaltung gekommen ist, um die Zertifikate zu überreichen. Aber er sieht NRW auf einem guten Weg, und vor allem für das Taubblindenassistenzprojekt bringt er gute Nachrichten mit. Denn obwohl der Antrag auf eine achte Qualifizierung noch vom Ministerium geprüft werde, verspricht er, dass der Kurs in diesem Jahr stattfinden kann.

Autor:

Vera Demuth aus Bochum

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