Es soll also wieder Weihnachten werden

Es sprach der liebe Gott zu seinem Helfer: „Knecht Ruprecht, gehe hinunter auf die Erde und sieh nach, ob es kann Weihnachten werden.“

Der treue, gehorsame Knecht machte sich auf den Weg. Er stieg hinab auf die gute alte Erde und begann in einer Fußgängerzone auch gleich, die Menschen zu befragen. Er fragte einen Geschäftsmann, der gerade seine Auslagen neu dekorierte, was er denn von Weihnachten erwarte. „Einen kolossalen Weihnachtsumsatz“, antwortete dieser. Da ging Knecht Ruprecht weiter und schaute in zwei leuchtende Kinderaugen. „Was erwartest Du von Weihnachten?“ , fragte er den Jungen. „Ein Telespiel und eine elektronische Orgel“, antwortete der Junge. Enttäuscht ging Knecht Ruprecht weiter und stellte sich just neben ein junges Paar. Doch bevor er fragen konnte, was dieses Paar von Weihnachten erwarte, hörte er sie auch schon streiten und schimpfen. Er zog geknickt die Fußgängerzone entlang, bis ihm eine alte Dame auffiel. Diese alte Dame musste doch noch wissen, wozu Weihnachten da ist. Er trat auf sie zu und fragte ganz freundlich: „Liebe Oma, was erwarten Sie denn von Weihnachten?“

„Von Weihnachten, pah, was soll ich denn von Weihnachten noch erwarten. Meine Tochter und somit meine Enkel wohnen in Amerika. Ich werde einsam sein! Von mir aus braucht es Weihnachten nicht zu geben!“ Auf diese Art und Weise hatte unser Knecht Ruprecht die gesamte Fußgängerzone durchschritten, ohne zu erfahren, warum es Weihnachten werden sollte. Er wanderte noch weiter durch die Straßen mit den Wohnhäusern und kam ins Industriegebiet. Dort sah er, dass in einer Fabrik noch Licht brannte. Licht - an einem Samstag?

Er wunderte sich sehr. Er fragte den Pförtner nach der Ursache und bekam zur Antwort: „Jedes Jahr vor Weihnachten müssen wir Überstunden machen, damit die Aufträge noch erledigt werden und die Ware versandt werden kann. Denn der Umsatz muss unbedingt noch im alten Jahr verbucht werden. Wir arbeiten und arbeiten und sind dann Heiligabend so geschafft, dass wir auf jede Feier verzichten können.“

Das gütige Lächeln verschwand aus den Augen von Knecht Ruprecht und er wollte schon wieder nach oben eilen, da sah er einen Mercedes am Straßenrand anhalten. Knecht Ruprecht dachte, wenn schon die armen Arbeiter auf den Heiligabend verzichten können, so muss dieser Herr da in der Nobelkarosse bestimmt eine positive Einstellung zu Weihnachten haben, und er eilte, ihn zu befragen. Doch der Herr im Wagen war ein Politiker auf dem Weg zu Aufrüstungsverhandlungen.

Nun traten unserem Knecht Ruprecht aber die Tränen in die Augen, und er schleppte sich mühsam weiter. Bis er dachte – HALT – ich bin es doch nicht, der so laut schluchzt. Er sah sich vorsichtig um. An der Hauswand lehnte eine junge Frau, die auch weinte. Hurtig schritt er auf sie zu und fragte sie nach ihrem Kummer. Unter tränenersticktem Stammeln vernahm er, dass sich hier jemand nach Frieden sehnte – nach Frieden am Arbeitsplatz und in der Familie – und dass es doch bald Weihnachten werden solle.

Knecht Ruprecht schwang sich nach oben und berichtete alles dem lieben Gott. Dieser sprach: „So lohnt es sich also doch, meinen Sohn auf die Welt zu schicken, damit Frieden einkehre in die Herzen. Es soll also wieder Weihnachten werden!“

Copyright by Heidrun Kelbassa
und veröffentlicht im Gocher Wochenblatt am 23. Dezember 1987

Autor:

Heidrun Kelbassa aus Goch

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