Das Diktat

Ich roch wie ein vergessener Turnbeutel. Meine Klassenlehrerin Fräulein Kalb stand mir darin in nichts nach. Jahrein jahraus nämlich trug sie die selbe blaugeblümte Kunststofffaserbluse. Deren kurze Ärmel hatten Bündchen, die sich im blumenkohlförmigen Fleisch ihrer Oberarme vergruben. Fräulein Kalbs Knickerbockerhosen waren aus Hirschleder. Wo mir der Brustbeutel, den mir meine Mutter jeden Morgen mit einem letzten prüfenden Griff ins frisch gekämmte Haar um den Hals hängte, auf der Brust klebte, bildete sich ein rechteckiger feuchter Fleck. Vorne behielt der Brustbeutel seine ursprüngliche Farbe, die auf den Strumpfverpackungen von Tante Mechthild als „Chamois“ oder „Isabell“ bezeichnet wurden. Die Rückseite war nach drei Wochen Grundschule dunkelbraun und glänzte wie eine Tafel Noisetteschokolade. Manchmal, wenn Tageslicht durch die mit stumpfem Glas belegten Oberlichter im richtigen Winkel auf Fräulein Kalbs Bluse fiel, konnte ich erkennen, dass sie auch dort schwitzte, wo sich das befand, was Vater „Büste“ nannte. Es wurden zwei ungleiche, beinahe elliptische, zur Gürtellinie hin spitzer werdende dunkle Schatten sichtbar. Sie endeten knapp vor der Gürtellinie. Einen Gürtel trug Fräulein Kalb aber nie. Wenn ihre fleckig-graue Knickerbockerhose rutschte, hakte sie ihren rechten Daumen in der Lücke zwischen Hosenknopf und leicht geöffnetem Reißverschluss fest und ruckelte. Dabei verlagerte sie ihr Körpergewicht mit jedem Ruckeln auf die Fersen. Mein Banknachbar Martin flüsterte dann: „Jetzt steigt der olle Zossen auf die Hinterhand.“ Ich verstand nicht, was er damit meinte, vermutetet aber, dass es etwas damit zu tun hatte, dass seine ältere Schwester, die Susanne, gerne vom Reiterhof erzählte. Nachdem in meinem ersten Zeugnis gestanden hatte, dass ich alle Buchstaben kennen und Texte nach sorgfältigem Lesen verstehen würde, schwitzte ich einige Tage lang nicht. Dass Ferien waren, mag aber wohl die wahre Ursache dafür gewesen sein. Nach den Ferien schrieben wir ein Diktat. Das fand ich nicht schwer. Fräulein Kalb ging, was mein Opa für „gemessenen Schrittes“ gehalten haben mochte, wenn er sie hätte beobachten können, war aber nicht ging, denn er war, wie Vater und Mutter sagten, „als Ganzes in Russland geblieben“ und nicht nur zum Teil wie Werner von gegenüber, der immer fragte „was liegt bei Stalingrad?“ und sofort selbst antwortete „mein rechter Unterschenkel“, durchs Klassenzimmer. Sie sagte auswendig das Diktat auf. Meistens sagte sie es wie die Schauspielerin in dem Theaterstück in das mich Tante Mechthild einmal geschleppt hatte, weil sie doch ein Abonnement hielt, nämlich sehr deutlich und gut zu verstehen. Es gab aber Wörter, die Fräulein Kalb ziemlich falsch aussprach. Im letzten Diktat hatte ich zwei Fehler gehabt, aber nur, weil ich aufschrieb, was Fräulein Kalb diktiert hatte. Eines der falschen Wörter war „wechnehmen“ gewesen, das andere müsste ich im Heft nachgucken, aber auch der Fehler war bestimmt auf Fräulein Kalbs falsche Aussprache zurückzuführen. Martin hat mir das bestätigt. Fräulein Kalb kam aus Borbeck. Mitten im Diktat stellte sie sich aber auch hinter uns und guckte von oben an unseren Köpfen vorbei, die über die Hefte gebeugt waren, auf das, was wir schrieben. Das machte sie auch einmal bei mir. Erst merkte ich, dass ihre Stimme näher kam, dann konnte ich sie stärker riechen als sonst, denn ich saß in der dritten Reihe und roch immer Martins schwarzen Filzer, der chemisch roch aber auch ein bisschen nach Marzipan. Als Fräulein Kalb direkt hinter mir stand und sich über mich beugte, wurde es sofort sehr warm an meinem Rücken. Es fühlte sich an den Schultern auch etwas feucht an und ich musste an die dunklen Schatten auf ihrer Kunststofffaserbluse denken. Dann stützte sich Fräulein Kalb mit ihrer linken Hand auf dem Tisch ab. Unter ihrer Handfläche begann das Holzfurnier zu glänzen, was ich sehen konnte, als sie mit Daumen, Zeigefinger und Ringfinger auf die Tischplatte klopfte. Mein Ellenbogen berührte ihren Unterarm auf der Innenseite und ich ich dachte, es ist komisch, dass es sich nicht feucht anfühlt. Sie sprach das Diktat über meinen Kopf hinweg und jetzt konnte ich riechen, dass sie in der Pause eine Mentholzigarette geraucht hatte. Meine Mutter rauchte Kim. Mein Vater rauchte auf der Kegelbahn. Ich konzentrierte mich, so gut es ging und musste gar nicht immer daran denken, dass die beiden Teile ihrer Büste auf meinen Schultern lagen, auf der linken etwas schwerer als auf der rechten. Ich schrieb, was ich hörte, bis Fräulein Kalb auf einmal mit ihrem rechten Zeigefinger auf ein Wort drückte, das ich eben aufgeschrieben hatte. Sie ließ ihren Finger mehrere Sekunden auf der Stelle und ich hatte Mühe, um ihre Hand herum weiterzuschreiben. Auf einmal spürte ich, wie es an meinem Rücken wieder kälter wurde. Ich dachte auch, dass das Licht jetzt etwas heller scheinen würde, aber Fräulein Kalb war nur einige Schritte zur Seite gegangen und beugte sich jetzt über Martin. Nach dem Diktat sagte Fräulein Kalb vom Pult aus den ganzen Text noch einmal auf und wir sollten nach Fehlern suchen. Wo Fräulein Kalbs Finger gewesen war, war jetzt ein Fleck. Er sah unregelmäßig rund aus und ein bisschen gelb. Die Buchstaben unter dem Fleck waren nicht mehr zu erkennen. Ich wusste noch nicht einmal, ob es drei oder vier Buchstaben gewesen waren. Leider habe ich bei der Wiederholung die Stelle verpasst, denn ich versuchte, die verschwommene Tinte wegzukillern. Der Fleck wurde ein bisschen größer, aber es war nichts mehr zu machen. Als wir die Diktathefte zurückkriegten, hatte ich ein gut. Rechtschreibfehler hatte ich nicht gemacht, aber für die Form gab es einen Abzug. Beim nächsten Elternsprechtag würde Fräulein Kalb meine Mutter bitten, darauf zu achten, dass ich etwas sorgfältiger arbeite. Ich und meine Mutter und mein Vater sind Fräulein Kalb sehr dankbar. Denn dank ihrer Geduld mit mir, kann ich jetzt lesen und schreiben.

Autor:

Henrik Stan aus Hagen

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