„Eine ganz andere Welt“: Hildegard Hillebrecht wird 100 Jahre – und erinnert sich für den WA an ihre Kindheit

Hildegard Hillebrecht beim Häkeln | Foto: Michael de Clerque

Schiefertafel und Zinkbadewanne, Sonntagskleid mit Spitze und ein Auto auf der Straße war eine mittlere Sensation: Hildegard Hillebrecht wird heute 100 Jahre alt. Für den Wochen-Anzeiger erinnert sich die Bewohnerin des Seniorenzentrums „Stadt Hilden“ an ihre Kindheit.

„In Schlesien hatten wir richtigen Schnee, teilweise meterhoch“, erzählt Hildegard Hillebrecht. Zusammen mit ihren zwei Geschwistern hat sie sich einen Holzschlitten geteilt: „Einer musste immer ziehen. Aber bergab sind wir zu dritt gerodelt. Und abends, wenn wir im Bett waren, sind unsere Eltern mit dem Schlitten die Berge runter gefahren.“

Hillebrecht wohnte mit ihrer Familie in der Neustadt von Waldenburg, dem heutigen Wałbrzych in Polen. Zur Schule ging es zu Fuß über den Berg. „Wir wären lieber Straßenbahn gefahren“, erinnert sie sich. Auf dem Weg holte sie ihre Freundinnen ab, die Mädels hatten am Anfang der Schulzeit Schieferstifte und Schiefertafeln dabei. „Gelernt haben wir zuerst die deutsche Kurrentschrift, später kam die lateinische dazu.“

Besonders schwer gefallen sei ihr Erdkunde, erzählt sie. All die fremden Länder, ohne in den Ferien groß verreisen zu können, sei das sehr abstrakt gewesen.

Mit der Pferdekutsche übers Land

Manchmal nahm ihr Vater sie mit dem Zug für ein paar Tage mit zu ihrer Oma, die auf dem Land wohnte. „Im Sommer wurden wir am Bahnhof mit der Pferdekutsche abgeholt, im Winter zogen die Pferde einen großen Schlitten, und es ging durch die Schneemassen, die der Pflug vorher rechts und links aufgetürmt hatte – wie durch einen weißen Schlauch.“

Ihre Großmutter hatte lange Zeit für den dortigen Gutshof gearbeitet, und durfte im Gegenzug unweit des Hofes in einem Haus ihren Lebensabend verbringen – allerdings nicht untätig. Sie passte auf die kleinen Kinder auf. „Und ich habe sie oft gesehen, wie sie den Flaum von den Hühnerfedern trennte, um Füllmaterial für Kissen zu gewinnen.“

Die Zeit bei ihrer Großmutter hat sie immer genossen, auch Sport hat ihr viel Spaß gemacht. Schlittschuhlaufen zum Beispiel. Von einem Nachbarsjunge hatte sie Kufen geschenkt bekommen, aus denen er schon rausgewachsen war. „Auf der zugefrorenen Wiese habe ich mir das Schlittschuhlaufen selbst beigebracht, zum Glück waren die Kufen nicht mehr ganz scharf, das hat mir geholfen.“ Die Kufen schnallten die Kinder unter die Schuhe – das ging nicht immer gut. „Manchmal gingen die Absätze kaputt.“

Schuhe am Küchentisch neu besohlt

Von schadhaften Schuhen profitierte Hillebrechts Vater, der als Schuhmacher arbeitete. „Zum Besohlen saß er immer in unserer Küche in der Ecke am Tisch gegenüber vom Ofen. Manchmal habe ich die Schuhe dann zum Kunden gebracht – und mich über ein Taschengeld gefreut.“ Hillebrechts Mutter war Schneiderin. Zu Weihnachten bekamen so die Puppen der Mädels neue Kleider. „Und eine Gans aus dem Ofen gab es auch.“

Staatliche Hilfen habe es kaum gegeben, Hillebrecht wurde schon als Baby in den Kindergarten gebracht. „Als ich größer war, durfte ich den Kleineren immer die Lätzchen vor dem Essen umlegen, die Frauen machten dann den Knoten“, erinnert sie sich.

Gebadet wurde in der Zinkbadewanne, das Wasser wurde zuvor auf dem Herd erhitzt. Ein Badezimmer gab es nicht. Aber eine Toilette. „Wir wohnten in einem Neubau, die anderen hatten das noch nicht.“ Die drei Kinder teilten sich ein Zimmer, mit Chaiselongue, das zu Weihnachten auch als gute Stube diente. „Sonst waren wir immer in der Küche.“

Gewaschen wurde – mit Waschbrett statt Waschmaschine – auf dem Dachboden, neben dem Trockenraum. „Die Hände meiner Mutter, die Haut und die Nägel, litten unter der Arbeit. Trotzdem hat sie sich lange gegen eine Waschmaschine gesträubt, alle anderen hatten vor uns eine.“

Sonntags ging die Familie spazieren, erklomm die kleinen Berge der Stadt. Kleid mit Spitze, schicker Strohut, manchmal waren auch Spazierstöckchen und Puppenwagen mit dabei.

„Es war eine ganz andere Welt. Mit laufenden Veränderungen. Und wir sind mitgewachsen.“

Autor:

Janina Krause (Rauers) aus Hilden

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