"Die Kinder und Enkel sind auf und davon..."

Dorfidylle | Foto: Marita Gerwin
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Unsere Tour führt uns auf dem Altmark-Radweg durch Sachsen-Anhalt, eines der bevölkerungsärmsten Bundesländer. Wir starten in Brome, radeln über Zicherie, Klein-Wißmar, Tangeln, Klötze bis in die pulsierende Hansestadt Salzwedel. Orte, die uns bisher völlig fremd sind. Vorbei an einsamen Bauernschaften, Storchennestern und idyllisch gelegenen Weihern. Üppig blühende Landschaften im Mai begeistern uns. Eindrucksvoll. Wir fahren an der alten Dorflinde vorbei ins Zentrum von Tangeln. Ein typischer Ort mit 300 Einwohnern. Vom Radweg aus fällt mein Blick zufällig auf eine Leine, an der blütenweiße Wäsche im Wind flattert. Eine alte Dame steht am Zaun und winkt mir zu. Was will sie nur von mir? Ich halt kurz an und lächle ihr zu. "Sie leben ja idyllisch hier."

Die gutgelaunte alte Dame erinnert mich irgedwie an meine Oma.

"Frisch gewaschene, duftende Wäsche, am besten an der Sonne getrocknet, ist ein Vergnügen, oder? Wenn die Sonne scheint und ein leichtes Lüftchen weht, trocknet die Wäsche ruck-zuck an der Leine. Bettlaken und Handtücher bekommen draußen einen ganz besonderen Duft. Sie sind anschließend viel weicher als im Haus getrocknete Teile", strahlte die alte Bäuerin.

78 Jahre ist sie alt. Einige Hühner gackern auf der Wiese vor ihrem Haus. Der Hahn kräht. Eine Katze schleicht schnurrend um ihre Beine herum. Vor der Trockenmauer steht eine Bank. Fast nicht zu sehen. Beinahe zugewachsen. Schief und krumm, aber urgemütlich. Die alte Dame lädt mich zu einem Plausch auf ihre Bank ein. Im ersten Moment schaue ich verdutzt auf die Uhr. Warum eigentlich nicht? Die Zeit nehm ich mir! Neugierig auf das, was sie mir erzählen möchte, setze ich mich zu ihr in die Sonne. Sie strahlt, "Schön! Die meisten Leute haben gar keine Zeit mehr für ein Pläuschchen. Wissen Sie, ich lebe allein auf dem Hof. Viel ist ja nicht mehr übrig von der Landwirtschaft. Mein Mann ist verstorben und meine 3 Kinder und 5 Enkel leben in Hannover und Hamburg. Na, ja. so ist es halt. So lange, wie ich noch kann, wurstel ich mich hier zurecht."

Ihre Lachfalten und ihre fröhlichen Augen fasziniern mich. Sie sprechen Bände. Es sind Lebenslinien, die sie gezeichnet haben. Ihr idyllischer Bauerngarten, mit der Wäscheleine vor dem Holzschober grenzt an den Radweg. Vor ihrem Haus blüht ein wunderschöner alter Rotdorn-Baum. Die gesamte Dorfstraße, eingerahmt von rosafarben Rotdorn-Blüten. Kaum ein Auto fährt vorbei. Es ist still hier. Mucksmäuschen still. Hin und wieder knattert ein Moped durchs Dorf. Ich entdecke viele alte Menschen in ihren Gärten, vor ihren Höfen. Hier ein Schwätzchen zwischen den Nachbarinnen. Dort ein Straßen kehrender, älterer Mann mit einer blauen Schlägermütze.

Interessiert schaut er zu uns rüber. Mischt sich in unser Gespräch ein : "Für meine Mutter war das Wäschewaschen eine anstrengende Angelegenheit. Jeden Montag stand sie in der dampfenden Waschküche. Das Einweichen und Stampfen der Wäsche im großen Kessel, der mit Holz befeuert wurde und das Scheuern der kostbaren Stücke auf dem Waschbrett, war ganz schön mühsam. Sie musste stark sein, wenn sie zum Schluss die Laken und Hemden durch die handbetriebene Mangel drehte, um das Wasser aus den Stoffen herauszupressen. Die ganze Woche hatte meine Mutter mit der Wäsche zu tun. Sie stopfte, flickte, bügelte und nähte, was Nadel und Nähmaschine hergaben. Ihr Monogramm stickte sie auf die gestärkte, blütend weiße Damast-Tischdecke und auf das Parade-Kopfkissen. Das waren noch Zeiten! Ja, so war der Waschtag unserer Mütter. Anstrengend. Heute läuft die Waschmaschine meistens nebenher, während wir anderen Dingen nachgehen oder uns gemütlich auf dem Sofa herumlümmeln."

Ein Kombiwagen biegt auf den Hof. Eine junge Frau steigt aus. Mit ihren 3 und 9 jährigen, quicklebendigen Blondschöpfen. Sie öffnet die Kofferraumtür und holt drei prall gefüllte Einkaufskörbe heraus. Augenscheinlich hat sie gleich einen Großeinkauf fürs halbe Dorf erledigt. Mehre handgeschriebene Einkaufslisten hält sie in der Hand. Mit Brot, Brötchen, Medikamenten, Zeitungen, Briefe. Ein kleines gelbes Päckchen liegt oben drauf. Zwei Flaschen Wein, 10 Pakete H-Milch, eine Zartbitter-Schokolade, Kräuter-Tee, Seife, Spülmittel, Hustensaft. Toilettenpapier, eine Tüte Lutsch-Pastillen, Joghurt, Zucker, Mehl, Margarine, Fisch-Konserven, Zahnpasta und was der Supermarkt sonst noch so alles hergibt.

"Meine nette Nachbarin. Sie bringt uns einmal in der Woche das Nötigste aus der Stadt mit, wenn sie ihre Kinder aus der Kita und Grundschule abholt. Dazu muss sie jeden Tag 15 Kilometer hin und her fahren", erklärt mir die alte Bäuerin. "Ja, so ist es, wir müssen mobil sein. Ohne Auto läuft hier gar nichts. Bei uns greift das Motto nicht: "Kleine Füße - kurze Wege". Wir sind froh, dass wir diese Verbundschulen und -Kitas überhaupt in der Nähe haben. Bei uns im Dorf sind sie schon vor Jahren geschlossen worden. Die Kinderzahl reichte einfach nicht mehr aus", erklärt mir die junge Mutter.

"Hast Du auch an die Mineralwasser-Kisten und die 5 Flaschen Bier gedacht?" fragt die alte Bäuerin nach. "Klar, doch." Sie sind inzwichen ein eingespieltes Team. Die junge Frau geht für sie einkaufen, dafür liest die alte Bäuerin gelegentlich ihren Kinder auf der Gartenbank "Gute-Nacht-Geschichten" vor, wenn es mal familiär kneift. Solidarität zwischen den Generationen ist hier selbstverständlich. Aber auch existenziel notwendig! Die Bäuerin schenkt ihr im Gegenzug zwei Gläser frisch gekochte Erdbeer-Rhababer-Marmelde, 10 Eier von ihren freilaufenden, glücklichen Hühnern und ein dankbares Lächeln.

Bei unserer Radtour durch die Dörfer in Sachsen-Anhalt flattert überall in den Gärten die Wäsche im Wind. Ein idyllisches Bild finde ich, oder? Was nur fehlt sind die jungen Familien mit ihren Kindern, die die Dörfer in Sachsen- Anhalt verlassen, um ihren Arbeitsplätzen hinterher zu ziehen. Sie machen sich verständlicherweise auf und davon! Es bleibt ihnen letztendlich gar nichts anderes übrig, wenn sie ihe Familien ohne staatliche Unterstützung ernähren möchten.

"Viele unserer jungen, gut ausgebildeten Menschen sind buchstäblich vom Winde verweht!", säufst die junge Frau. "Sie glauben gar nicht, wie viele Nachbarn wir schon verabschiedet haben. Noch haben mein Mann und ich einen festen Arbeitsplatz. 60 Kilometer von hier entfernt. Wir leben gern hier in unserem eigenen Haus mit dem großen Garten. Unsere Kinder wachsen idyllisch auf. Doch wenn sie älter werden und einen Arbeitsplatz suchen, wirds schwer hier. Denn irgendwo her muss der Schornstein ja rauchen! Na ja. Schaun wir mal, was die Zukunft uns so bringt." sinniert sie.

Viele der jungen Menschen zieht es hinaus in die Welt. Die Alten, die Großeltern und Eltern bleiben zurück, in den strukturschwachen Regionen. Allein. Mit ihren älteren Nachbarn. Sie solidarisieren sich und meistern ihren Alltag, so gut sie es irgendwie geregelt bekommen.

"Hut ab" wie Sie diese Herausforderungen meistern.

Wie ihre Zukunft wohl langfristig aussehen wird? Ich mags nicht zu Ende denken...

Der Demographische Wandel schlägt in dieser ländlich geprägten, dünn besiedelten und strukturschwachen Region heftig zu. Was fehlt sind ausreichende und attraktive Arbeitsplätze, die den jungen Menschen eine Perspektive bieten. Viele marode Leerstände in den Dörfern haben wir gesehen. Investitionsstau. Abbruchreife Häuser, dem Verfall preisgegeben, weil Niemand mehr drin wohnt. Die alten Menschen sind verstorben oder in ein Altenheim verzogen. Die jungen Familien sind in die Stadt gezogen. Der Tante-Emma-Laden um die Ecke und auch der Frisör hat seine Pforten längst geschlossen. Im Fenster lese ich noch auf der vergilbten Preisliste: "Männerhaarschnit: 10 Euro. Dauerwelle 15 Euro. Kinderhaarschnitt 12 Euro". Ein Spinnennetz hat sich in der Fensterecke breit gemacht. Niemand hat das Sprossen-Fenster seit Jahren mehr geöffnet. Schade, eigentlich.

Der Bäcker, der Metzger, die Apotheke, der Zahnarzt, der Pfarrer, die Poststelle, der Bus, der Hausarzt, die Kunst und Kultur dünnen hier auf dem Land gewaltig aus. Konzentrieren sich auf "Die Grüne Wiese" zwischen den Zentren. Die alten Menschen radeln dorthin, solange sie es noch aus eigener Kraft schaffen. Aber was wird in einigen Jahren sein? Werden sie in ihrer geliebten Nachbarschaft wohnen bleiben können? Wird jemand da sein, der sie umsorgt und pflegt, wenn sie auf fremde Hilfe und Unterstützung angewiesen sind?

Nicht alle lebensnotwendigen Dinge wachsen im eigenen Garten.

Die Kaufkraft schwindet schlechthin. Die sozialen Bezüge werden brüchig. All dies führt nicht zu den "Blühenden Landschaften". Idyllisch gelegene Dörfer, ohne eine Grund- Versorgungsstruktur, reichen allein nicht aus, um die ländlichen Regionen für alle Generationen zukunftsfähig zu gestalten. Hier sind alle gefragt: Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft. Aus eigener Kraft werden die Bürgerinnen und Bürger dies nicht schaffen. Kluge politische Konzepte und Handlungsstrategien sind gefragt, um sich im Demographischen Wandel gut aufzustellen.

Nicht nur in den neuen Bundesländern ist es "Fünf vor Zwölf". Auch in den ländlichen Regionen der alten Bundesländer hat der gesellschaftliche Wandel längst Einzug gehalten. Es gibt viel zu tun in den nächsten Jahrzehnten. Packen wir es an. Denn "auch aus Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schlösser bauen!" (Johann Wolfgang von Goethe)

Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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