Wenn diese Nebel aufsteigen...

Wenn diese Nebel aufsteigen, diese Herbstnebel am frühen Morgen…. Wissen Sie, was ich meine? Nein, Sie wissen es vielleicht nicht. Wie könnten Sie auch…
Ich weiß es ja selbst kaum. Ich ahne es nur. Wenn ich mich aus meinem Badezimmerfenster lehne und den morgendlichen Sonnenaufgang erwarte. Mit diesen Nebeln. In den Nebeln. Das Licht scheint diffus in einer großen Feuchtigkeit, verschleiert den Blick, lässt sanft nur die Umrisse erahnen, die sich formen, allmählich, zu immer fester werdender Bestimmung. Die Feuchtigkeit schleicht in die Glieder, umgibt sie in stillem Genuss und es legt sich ein Frösteln auf die Haut, das…
Wenn ich aus meinem Fenster schaue im frühen Morgennebel, wenn ich den Sonnenaufgang erwarte, die letzten Sterne vergehen sehe im nahendem Türkisblau, das sich so jungfräulich unschuldig zum klaren Firmament gestaltet, dann denke ich an diese Burg damals, diese wunderbare Burg im frühen Morgennebel.
Es war weniger eine Burg, vielmehr eine Ruine, inmitten von Weinbergen, hoch über dem Tal der Mosel, die sich geschwungen eingegraben in den Hügeln wandte. Den Fluss ahnte man nur, eine wolkenartige graue Idee, unwirklich, so unwirklich wie die Landschaft, wie dieser Morgen. Wir gingen zu Dritt direkt von der Jugendherberge dorthin, früh erwacht von einer uns ergreifenden Neugierde, einer gefühlte Freiheit des sich öffnenden Lebensraumes an der Schwelle des Erkennens, und die Kindheit versuchte, an uns abzugleiten.
An diesem Morgen schüttelte ich sie ab. Wir waren die ersten, die wach waren, Andrea, Heike und ich. Frühstück gab es noch lange nicht. Und interessierte uns auch weniger. Heike redete ein bisschen zu viel, scherzte, und mir war nicht nach Scherzen zumute. Ich sah diese Burg, diese Ruine im Nebel sanft erhoben über dem sich windenden Fluss und fühlte mich, wie ich mich noch nie gefühlt hatte. Ich konnte nicht beschreiben, was in mir vorging, denn ich kannte solcherart Empfindungen nicht. Eine tiefe Sehnsucht berührte mich, erfasste mich, köstlich und schmerzlich zugleich. Sie breitete sich wie der Nebel aus, ahnend und hoffend, emporstrebend und auflösend von dem aufgehenden Licht, das die Dinge klar erscheinen lassen würde und sich manifestierte in den Tag.
Ich war Vierzehn und das erste Mal alleine auf einer Wanderfahrt mit einer Jugendgruppe, Moselhöhenweg, eine Woche von zu Hause fort, eine Woche mit Gleichgesinnten. Wir hatten Maria Laach besichtigt, viele christliche Lieder gesungen, und am Ende sollte es eine Schifffahrt nach Trier geben, wo wir uns die Porta Nigra anschauen wollten.
Beim Frühstück an diesem Morgen sangen wir, wie wir es immer vor dem Essen taten, ein Lied, das Lied: - Oh, Herr, du mein Freund, du nimmst mich bei der Hand… - und währenddessen näherte sich ein Jungenfuß unter dem Tisch dem Meinen. Wir sahen uns verlegen an und sahen sofort wieder weg, wir konnten nicht schauen, denn wir wussten selbst nicht, was mit uns geschah. Später, als wir auf einer Rast auf einer Mauer saßen und die Aussicht genossen, legte er seinen Kopf auf meinen Schoss. Alles in mir vibrierte wie ein Vulkanausbruch des Glücks. Die Leichtigkeit des Augenblicks ließ mich fast schwindelig werden, ich ging nicht mehr, ich schwebte.
Nun war an Schlaf nicht mehr zu denken und im Schlafsaal mit den Freundinnen tat ich kein Auge zu. Auf dem Schiff nach Trier waren wir so übermüdet, dass wir uns auf dem Deck zusammen rollten…
Diese erste Liebe wäre vielleicht eine Lebensliebe geworden, doch meine Mutter intervenierte dagegen, spann Intrigen, kontrollierte mit vehementem Druck und schaffte es, uns nach einiger Zeit auseinanderzubringen. Er heiratete, ich heiratete später und ab und zu sah man sich, wobei er beim letzten Mal mir gegenüber immer noch äußerst aufdringlich trotz der Anwesenheit seiner Frau wurde. Er starb vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt und hinterließ seine Frau und ein Kind.
Aber immer, wenn diese Nebel aufsteigen, wenn die Welt jungfräulich unschuldig ein neues Werden beginnt, wenn ich innehalte kühl fröstelnd am Badezimmerfenster, durchzieht mich wieder die Sehnsucht und Weite einer Unerklärlichkeit. Und ich werde still. Denn die stillen Nebel umgeben mich wie ein Einverständnis in dem süßen Hoffen und Bangen, und gleichzeitigem Getragen-Werden von der Urkraft, die in uns wohnt und uns erhebt zu den Wesen, wie wir auch gemeint sein können, wenn wir nur wollen.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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