Johanna oder „Warum ist der Engel blau?“

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Er war niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß, als ich ihn im Vorraum einer Kirche sah. Hinter mir lag eine lange Fahrradtour, die erlaubte, endlich auch einmal vom Sattel abzusteigen, vor mir lag das Kirchenschiff, dem ich einen Blick von mir gestatten wollte, weil ich gern in Kirchen schaute, die woanders offen sind, in Bochum aber nicht, und dazwischen lag der Kirchenvorraum mit dem kleinen Tischchen, das verhinderte, dass ich in die Kirche schaute, weil er mich voll in Anspruch nahm. Denn darauf lagen nicht nur er, sondern mehrere von seiner Sorte.
Sie waren niedlich und so wunderschön weinrot und hellrot und orange und grün und gerade mal zwei Zentimeter groß: kleine Engelchen an einem kleinen Lederhalsband, gerade groß genug für einen Kinderhals, gerade groß genug … für … ??? … für … ???

Johanna!

Gerade groß genug für Johanna, den Engel aus der Nachbarschaft http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/engel-der-nachbarschaft-d322107.html , deren kleine Kinderfüße ich morgens immer eifrig trappeln hörte, wenn sie die gelesene Tageszeitung brachte und die jetzt nach den Ferien in die Schule kommen würde. Johanna, fand ich, konnte gut jemanden brauchen, der auf ihren Wegen immer auf sie acht gab.

Ich hatte mich verliebt. Nicht in Johanna, nein. Ja, doch, natürlich, in die auch. Wer verliebte sich nicht in Johanna? Nein, in den kleinen Engel hier, der so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß war. Er war genau das, was ich brauchte.
Ich entschied mich ziemlich auf der Stelle und kaufte diesen kleinen Engel, der so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß war, steckte ihn in meinen Rucksack und passte sehr gut auf ihn auf, damit er bis zum Schulanfang nicht irgend einen Schaden nahm.

Am Tag der Einschulung nahm ich den Engel mit dem kleinen Lederhalsband, um ihn für Johanna zu der Fotokarte in den Briefumschlag zu stecken, die ich ihr geschrieben hatte. Doch der Engel, der so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß gewesen war, als ich ihn kaufte, war nicht mehr niedlich und wunderschön weinrot sondern … blau. Mein Engel war jetzt ritzeblau.

S T E R N H A G E L B L A U!

NEIN!

Ich sank in mir zusammen und dieser Weg war ziemlich tief. Was fiel dem Engel ein, der so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß gewesen war, als ich ihn im Vorraum einer Kirche kaufte? Ein blauer Engel, das ging gar nicht. Wie sollte ein sternhagelblauer Engel denn ein kleines Kind beschützen?

„Hör mal“, fragte ich den Größten der Familie, als er aus der Schule kam, weil er dabei gewesen war, als ich den Engel kaufte, „warum ist der Engel denn jetzt blau?“
„Jahaaa, das“
, sprach der Größte der Familie, der einmal ein noch viel größerer Wissenschaftler werden möchte, „das liegt am UV-Licht und am Einfallswinkel, wenn die Sonnenstrahlen auf den Engel treffen." Der Größte der Familie sah mich wissend an.
"Kuck“, nahm er den Engel, der so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß gewesen war, als ich ihn kaufte und nun so fürchterlich sternhagelblau vor meinen Augen auf dem Tisch lag, dass er in Richtung Grün changierte, und hielt ihn in die Sonne.
Doch der Engel, der so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß gewesen war, dachte im Leben nicht daran, sich den wissenschaftlichen Erklärungen des Größten der Familie anzupassen, der einmal ein noch viel größerer Wissenschaftler werden möchte.
Er blieb blau.

Ich nahm den Engel, der so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß gewesen war und stopfte ihn entschlossen zu der Fotokarte in den Briefumschlag, bevor ich zu den Nachbarn ging. Vielleicht geschah auf meinem kurzen Weg ja noch ein großes Wunder.

~ * ~ * ~ * ~ * ~

Wenn man erwachsen ist, geschehen keine Wunder, weil man nicht mehr an Wunder glauben kann, wenn man erwachsen ist. Johanna aber öffnete den Umschlag und war glücklich. Der Engel an dem kleinen Lederhalsband fiel ihr auf der Stelle um den Hals, nahm kurz einen Hauch zartvioletter Röte an, um dann wieder blau zu werden. Nun gut, Johanna konnte ja nicht wissen, dass er so niedlich und so wunderschön weinrot und gerade mal zwei Zentimeter groß gewesen war, als ich ihn für sie kaufte.

Und so wird Johanna, der Engel aus der Nachbarschaft, ab jetzt das erste Kind in Bochum und in NRW und in ganz Deutschland und auf der ganzen Welt sein, das auf seinen Wegen zur Schule von einem sternhagelblauen Engelchen beschützt wird. Ich hoffe nur, dass alles gut geht.

Viel Spaß in der Schule und viel Freude auf dem Weg dorthin, Johanna. Und pass‘ gut auf den Engel auf. Ich glaub‘, er kann's gebrauchen!

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, September 2013

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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