Und Shakespeare grüßt das Murmeltier – ein Mittsommernachtsalbtraum

Englisch-Aufsatz. Abgabe morgen, 1. Stunde, sprich 7:30 Uhr. Aktueller Stand 21:30 Uhr, Überschrift steht einsam in Schönschrift im Heft. Darf man in Englisch nach Greenwich Mean Time abgeben? Dann gewinne ich eine Stunde – oder zwei? Machen die die Sommerzeit mit? Mist, hätte ich auf Studienfahrt besser aufgepaßt. Wir waren doch da. Vielleicht kauft mir der neue Englischlehrer das mit GMT sogar ab, der ist noch frisch. Um nicht zu sagen jung und knusprig.

Erinnert mich an den aus dem Film, den wir in der 9. gedreht haben. Unsere preisgekrönte Teenie-Version vom Sommernachtstraum. Wenn man will, hat alles mit Shakespeare zu tun. Hey, das isses! Vielleicht das Pferd von hinten aufzäumen und für alles, was einem einfällt, bei Shakespeare nachschlagen? A propos hinten: Da sitze ich. Vorn steht kein schicker Junglehrer, sondern eine Klassenlehrerin. Elternabend. Der Aufsatz ist für Tochter. Hatte versprochen, zu helfen, kam immer was dazwischen. Unseren Film habe ich ihr gezeigt. Das Inspirierendste für sie: Sie Lektion in Technikgeschichte. Einlegen einer Videocassette! Außerdem: Ansicht einer SCHULTAFEL mit Kreide! Ja Kind, zu meiner Zeit war in Deiner Klasse die Wand noch nicht schlauer als ich. Man war selber smart oder hatte Pech. „Falke, brich Dir nicht den Arm!“ Solche Warnungen bei der Konstruktion einer Tangente an der Tafel mit riesigem Zirkel und Geodreieck sind heute überflüssig.

Die Zeichnung wirft der Computer an die Wand. Dafür warnt man Gymnasiasten und ihre Eltern, daß Herumturnen auf nassen Steinen zu Beulen führen kann. Ach nee! Aber ich schweife von meiner Aufsatzidee ab. Obwohl: „Shakespeare konstruierte den iambischen Pentameter, damit es beim Aufbau des Versmaßes nicht zu Brüchen in der Handlung kommt.“ Klingt doch gut. In welcher Handlung darf es nicht zu Brüchen kommen? Egal, es geht da immer um Beziehungskisten und Gefühle. Liebe und Macht, Haß und Rache, Treue und Tücke. Also „Deshalb setzt er den – oder das? – Pentameter immer ein, wenn unverbrüchliche Liebe und Treue ausgedrückt werden sollen.“ Soll mir die steile These einer widerlegen. Es klopft. In der Tür steht ein kleiner dicker Mann und zeigt auf mich: „Bist Du die Tochter vom Bernd?“ Häh? Mein Kopf wackelt, nicht nur um Zustimmung auszudrücken. „Bitte mal mitkommen“. Na gut, schon aus Neugier. Der sieht aus wie der aus Papas Fotoalbum von seiner Klassenfahrt. Der mit dem gestreiften Pyjama. Wer will seine Lehrer im Pyjama sehen und fotografiert das auch noch? Wobei, der Junglehrer… STOP! Lehrer der Tochter wären noch mehr pfui als der eigene. Außerdem deprimierend: Damals wäre ich zu jung für ihn gewesen. Jetzt – sind wir in der altehrwürdigen Aula angekommen. Vorn sitzen zwei weitere Männer auf dem Podium. Dazu setzt sich jetzt der Typ, der mich abgeholt hat. Der in der Mitte ergreift das Wort. „Sie haben hier Abitur gemacht. Welche Note hatten Sie in Latein?“

Verdammt, der sieht aus wie Vatters alter Lateinlehrer, der scharfe Hund! „Ich hatte in meinem Leben keine einzige Lateinstunde.“ „Da haben Sie auch nichts verpaßt.“ Wie jetzt??? „Scherz beiseite, dann fehlt also die Lateinnote nicht und Sie müssen nur in den restlichen Fächern geprüft werden.“ Was??? Wie klischeemäßig ist das denn? Der alte „Ich-muß-das-Abi-wiederholen“ Albtraum? Witzig, Jungs! Hoffentlich schnarche ich 1. nicht und werde 2. schnell wach. „Jedoch sieht es schlecht für Ihre Prüfungszulassung aus. Man hört, es hapert erheblich mit der Disziplin.“ „Moment, ich bin zwar letzte Woche bei der Chorprobe etwas albern gewesen, aber ich habe auch konzentriert gearbeitet.“ Woher wissen die das? Hat der Chorleiter vom Ehemaligenchor mich verpetzt? Auch bei meiner Tochter? Blöd, wenn man sich den Musiklehrer teilt! Nochmal STOP! Rechtfertige ich mich gerade vor Traumgestalten? „Es geht um die Englischstunde, wo Sie Ihrer Englischlehrerin den Wischer gezeigt haben.“ Och nö, hat die fast 3 Jahrzehnte später immer noch nicht begriffen, daß ich vor Langeweile in meinem topmodischen 80er Popperpony gespielt habe? Ihr wildes Gezeter über meine Unverschämtheit hat mich damals unsanft aus meinen Tagträumen gerissen. Ich weiß bis heute nicht, was sie vorher erzählt hatte. Muß blöd genug gewesen sein, daß sie meine Handbewegung als Kommentar dazu auf sich bezogen hat. „Das war ein Mißverständnis, mein Pony ging bis übers Auge und den hab ich ständig von a nach b gewischt.“ „Auf mein Wort, das Fräulein ist zwar manchmal etwas vorlaut, aber niemals frech.“ Sagt der jüngste von den dreien. Warum trägt der so eine doofe Frisur und einen albernen Bart? Gemurmel auf dem Podium.

„Nun gut, dann lassen wir Sie zur Prüfung zu. Fassen Sie bitte in Sonettform die Bedeutung von Schule einst und heute zusammen.“ Muse, küß mich schnell!
„Soll ich vergleichen Schule einst und heute?
Was sollte geben mir dazu die Macht?
Sind alle Schüler doch und Lehrer großteils andere Leute
als die, mit denen ich die Zeit verbracht.
Denn das ist, woran zuerst ich denke,
gefragt, was übrig blieb von all den Jahren.
Empfunden als das größte der Geschenke,
Begegnungen sind und Freuden, die gemeinsam wir erfahren“

Jetzt irgendein Sch…luß, reim Dich oder ich freß Dich:

„Was damals galt, sollt auch für Schüler heut so sein.
Nehmt Zeit Euch füreinander, für Spaß am Lernen und am Leben
Und schnelle Wissensvermittlung bringt es nicht allein.
Echte Reife, Persönlichkeit kann stumpfe Paukerei nicht geben.
Was wirklich zählt, sind keine hohlen Silben oder Worte,
es lebe Schulgemeinschaft stets an diesem Orte!“

Boden tu Dich auf. Selbst mit meinen linken Händen sollte ich besser Leitungsrohre dichten. Aber: Pünktlich fertig! Der jüngste meiner Prüfer zwinkert mir zu. „Bestanden“ tönt es. „Das wars“ Wieso klingt das weiblich? „Elternabend ist überstanden.“ Eine Mit-Mutter grinst mich an. „Geh zuhaus gleich wieder schlafen.“ Geht nicht. Muß erst noch was schreiben. Die Entschuldigung für Tochter für Englisch morgen.

Autor:

Simone Hiesgen aus Bochum

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