damals in den 50ern und 60ern

Anfang der Sechziger unterhalb der Rheinpromenade, da, wo heute der Treidelpfad entlang führt
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  • Anfang der Sechziger unterhalb der Rheinpromenade, da, wo heute der Treidelpfad entlang führt
  • hochgeladen von Christel Wismans

Ist es eine Alterserscheinungen, dass ich immer öfter das Gefühl habe, dass die Zeit rennt? Mit Riesenschritten? Dass sich alles immer schneller verändert? Die Welt sich immer schneller dreht? Die technischen Neuerungen sich förmlich überschlagen? Und wir uns selber auf der Überholspur überholen?

Es scheint doch erst so kurz her, dass die Straßen noch fast autofrei waren und der Himmel den Elementen gehörte.
Dass wir Briefe schrieben, wenn wir wissen wollten, wie es denen geht, die nicht im selben Ort wohnten.
Dass Schwarz-Weiß-Fernseher mit einem einzigen Programm noch Luxus pur waren.
Musik konnten wir im Radio auf Mittelwelle hören, wobei Radio Luxemburg mit seiner progressiven Schlagermusik als absolut in galt. Wobei das Wort "in" einfach nur in= drin, innen bedeutete.
Wer besonders fortschrittlich war, konnte sogar schon UKW empfangen und lernte die Ami-Songs kennen. Ich nicht.
Wenn wir das unseren Enkeln erzählen, kriegen sie tellergroße Augen und denken, wir erzählen Märchen aus einem anderen Jahrhundert.
Na ja, es sind zwar erst ein paar Jahrzehnte her, aber ein anderes Jahrhundert war es schon. Sogar ein anderes Jahrtausend. In jeder Hinsicht.

Ich bin ein Nachkriegskind, Armut und Entbehrungen waren normal, und ich denke, sie haben keinem von uns in der Entwicklung geschadet.
Wir trugen selbstgeschneiderte oder gestrickte Röcke und Kleider, die Mädchen darüber noch Schürzen, um die Kleidung zu schonen. Die Jungs hatten meistens nur kurze Hosen an, im Sommer wie im Winter. War es zu eisig, mussten sie halt lange Strümpfe darunter tragen mit einem Leibchen zum Befestigen. Lange Hosen gab es nur bei erwachsenen Männern. Sie waren für Jungs, Mädchen und Frauen tabu.
Selbst als ich noch zum Lyzeum ging, waren lange Hosen nicht erlaubt. Es gab sie zwar schon vereinzelt, ich besaß auch eine Steghose und fand mich todschick damit, aber in der Schule?
Wir hatten eine Lehrerin, die uns nicht an die Tafel oder die Landkarte ließ, wenn wir Hosen trugen. Sie meinte, uns damit zu bestrafen...! Natürlich haben wir das weidlich ausgenutzt. "Mädchen tragen keine Hosen. Das ist unanständig."

Das zog sich so durch die 60er bis Anfang der 70er.
1972, als wir bauten, habe ich mir die allererste Jeans gekauft, als Arbeitshose, wie ich sie scheinheilig deklarierte. Ich glaube, ich war damit eine der Ersten in Emmerich.
So langsam schwappte alles über den großen und kleinen Teich rüber. Dazu gehörten nicht nur die Musik, der Rock'n Roll und die Beatles mit ihren pfui, wie kann man nur so lange Haare haben!!! sondern halt auch der Minirock und die Bluejeans. Ich habe meine erste Jeans immer gekocht, damit sie schön eng wurde ( gesagt habe ich natürlich, ich muss sie kochen, um sie sauber zu kriegen! )

Aber zurück zu den 50ern.
Neben unserer Siedlung wurde eine neue Siedlung gebaut. Für Flüchtlinge, Familien, die aus dem Osten kamen. Die vor dem Russen geflüchtet waren. Ostpreußen vor allem. Was das im Einzelnen bedeutete, konnte ich mir mit meinen rund acht Jahren nicht so genau vorstellen. Aber gehört hatte ich schon viel vom Russen und vom eisernen Vorhang.
Mein Onkel, der aus der Gefangenschaft zurück gekehrt war, hockte oft stundenlang bei uns in der Stube vor dem alten, knatternden Volksempfänger, (ein simpler Radio-Vorgänger mit Gardine und elfenbeinfarbenen, dicken Tasten) und lauschte den Nachrichten. Er wartete darauf, dass sich der eiserne Vorhang öffnen würde.
Ich stellte mir dabei einen riesigen, rostigen Vorhang vor irgendwo da draußen zwischen den Ländern, irgendwo da, wo Oder und Neiße fließen und das Haff in der Ostsee ist. Alles Worthülsen für mich, die meiner Fantasie Tor und Tür öffneten.

Jedenfalls, die meisten der neu hinzugezogenen Flüchtlingskinder waren evangelisch wie ich auch und kamen in die Albert-Schweitzer-Schule und manche auch in meine Klasse. Wir bestaunten sie wie Exoten.
Die anderen Kinder in meiner Straße aber staunten noch mehr. Sie konnten nicht fassen, dass es noch mehr von meiner Sorte gab. Bislang war ich weit und breit das einzige Kind gewesen ohne Rosenkranz, Fastenzeit, Beichten und Exerzitien.

Ein Mädchen namens Edith hatte es mir besonders angetan. Ich flüsterte ihr in der Pause zu: "Ich komm dich heute Mittag anrufen."
Anrufen hieß: sich vor die Haustüre stellen und laut den Namen rufen.
Telefone? Handy? Smartphone? Flatrate? Internet-Telefon? Skype? SMS? E-Mail?

Kein Mensch hatte Telefon. Kein Mensch hier hatte je von Telefon gehört. Meine Eltern waren Marine-Funker gewesen, sie kannten vom Krieg her die drahtlose Übermittlung von Nachrichten.
Aber im Privatleben? T e l e f o n ??????

Irgendwann, schätzungsweise Mitte der 60er, hatte in der Nachbarschaft jemand einen geschäftlichen Anschluss mit 4stelliger Nummer. Gott, war das aufregend! Wir hätten das Telefon, ein großes, schwarzes Gerät mit Drehscheibe, auch mal benutzen dürfen. Aber wen sollte man anrufen?

Der Typ hatte auch das erste Auto weit und breit, ein flottes Goggo-Mobil. Etwas größer als ein Kettcar, aber mit schwenkbarer Kuppel. Trockenrasierer, so nannte mein Vater diese fahrbaren kleinen Eier mit macht hoch die Tür.

Ein anderer Nachbar hatte als erster in unserer Ecke sowohl Musiktruhe als auch Fernseher. Tagsüber lauschten wir Kinder neidisch den lauten Schlagerklängen durch die offenen Fenster bis auf die Straße und abends, logisch, bettelten wir, ob wir Fernsehen gucken dürften. Wir durften meistens, und dann saßen wir auf Stühlen hintereinander in Reihen in dem diffusen, blauen Licht und bestaunten die Nachrichten und vielleicht, wenn wir ganz viel Glück hatten, hinterher noch die Familie Hesselbach, die noch von einer Fernsehansagerin angekündigt wurde.
Soviel Fortschritt innerhalb kürzester Zeit! Es war sehr aufregend!

ARD als Alleinunterhalter mit ein, zwei Sendungen in schwarz-weiß, oft auch nur undeutlich zu erahnen in nebligem Grau. ARD, sonst nichts. Entweder- oder. Später kam dann das Vorabendprogramm dazu, das Intermezzo.
Auch zu der Zeit hatten wir zuhause noch keinen eigenen Fernseher.

Bei Wind und Wetter fuhren wir unsere Wege mit dem Fahrrad, egal, wie weit oder wie kalt oder wie heiß es war. Fahrrad oder laufen. Was anderes gab es nicht. Wie oft bin ich mit abgestorbenen Händen und Füßen von der Schule gekommen. Meine Grundschule, die einzige evangelische weit und breit, in die ich gehen musste, war eine ganze Ecke weg von zuhause.
Heute gibt es Geschrei von allen Seiten, wenn die Eltern nicht die freie Schulwahl für ihre Kinder bekommen. Wenn ihre Kinder einer Grundschule zugeordnet werden sollen. Wenn ihnen zugemutet wird, mit Kindern anderer Konfession oder Hautfarbe zusammen die Schulbank zu drücken.
Diese Probleme gab es früher bei uns nicht. Jeder Ortsteil hatte eine katholische Grundschule. Und irgendwo mittendrin stand die Grundschule für Kinder wie mich. Dahin mussten wir. Egal, wie weit der Schulweg war. Ohne Bus, Bahn oder Mutter-Taxi. So einfach und klar war geregelt. Basta.
Zwei Drittel der Strecke ging es so einigermaßen, da war schon wieder alles ziemlich aufgebaut worden. Aber das letzte Stück - nur freies Feld. Und dann im Winter bei schneidendem Ostwind! Von wegen lange Hosen, Boots, Wollsocken und Parka...
Ein dünnes Mäntelchen überm Kleidchen, lange Kratzstrümpfe mit Leibchen, Strickmützchen und Strickhandschuhe, flache, dünne Schuhe. Wie oft hat meine Oma mich wieder aufgetaut, wenn ich aus der Eiseskälte in die Bollerwärme unserer Küche kam. Dann hat sie meine Hände unter ihre warmen Achseln geklemmt, bis langsam wieder Leben rein kam und sie anfingen, fürchterlich zu prickeln.
Das war ganz normal.

Aber dann kamen die Sechziger. Wir wurden langsam erwaschsen und drängten ins Leben. Zwar war da zu der Zeit nicht viel in Emmerich, wo junge Leute hin drängen konnten, aber für uns war es trotzdem aufregend.
Im Sommer konnten wir uns im neuen Freibad austoben, oder wir hockten in Grüppchen kichernd in der ersten italienischen Eisdiele von Giorgio Frecura und gönnten uns von unserem mageren Budget ein Cassata. Giorgio und Giovanni, zwei richtige, waschechte Italiener von dort, wo sie in den Schlagern sangen und wo schon mal reiche Leute Urlaub machten. Die Trevi-Bar war unser allgemeiner Treffpunkt. Die hatten sogar eine Musicbox!

Ab und an gab es dann auch schon mal einen Tanzabend im Saal von Sluyter.
Erste Begnung mit dem anderen Geschlecht. Zitternde Hände und Schluckauf. Tanz bei Kerzenschein. Wird er mich auffordern? Hübsch machen. Der erste Lippenstift, Wimperntusche und Lidstrich.
Doch woher das Geld nehmen dafür?
Ich bestand darauf, nach der mittleren Reife das Lyzeum zu verlassen und eine Banklehre zu beginnen. Ich wollte endlich erwachsen sein, endlich mal Geld in die Hand kriegen. Und ich wollte sooooo gerne einen Lippenstift haben!
Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Dass meine Eltern das mitgemacht haben? Nach all den Kämpfen, mich damals aufs Gymmi zu kriegen. Ich war doch nur ein Arbeiterkind, mit Supernoten zwar, aber doch nicht tauglich für eine gehobene Schule. Ich hätte mindestens ein Beamtenkind sein müssen, nicht das Kind eines Drehers.

Kinomäßig war damals genauso wenig los wie heute. Das Alexander-und das Germania-Kino hatten ihre Pforten geschlossen. Zwar gab es im Speelberg noch das Eva-Theater, aber dort tummelten sich überwiegend dumme Blondchen auf harten Schulbänken...
Also machte auch dieses Kino bald dicht.

Die Sportvereine boten noch eine breite Palette an. ABer ansonsten war eigentlich nichts los. Höchstens nochmal an den drei Kirmestagen...

Trotzdem war es eine unbeschreiblich tolle, langweilige Zeit! Toll, weil es viel aufregender war als zu Kinderzeiten, langweilig, weil wir warten mussten auf die richtig erwachsene Zeit. Es gab noch eine recht strikte Trennung zwischen Jugend und Erwachsensein.

Aber: Jeder war eigentlich, wie er war. Jeder trug das, was seine Eltern ihm gekauft und hingelegt hatten. OK, der eine hatte schon mal geraucht, und der noch andere hatte schon mal das, was man nur hinter vorgehaltener Hand flüstern konnte, gemacht. Aber abgesehen von den Schnellstartern oder Angebern waren wir alle doch ziemlich gleich.
Cooles Abhängen war noch völlig unbekannt, chillen kannte kein Mensch. Wir schlufften nicht in offenen Turnschuhen und Hosen, die kaum noch den Hintern bedecken. Nirgends bimmelte ein Handy, keiner stierte und tippte unentwegt in sein Smartphone.
.
Ich denke heute, es war eine absolut naive, romantische Zeit damals, die Tanzstunde mit dem Abschlussball im Cocktailkleidchen. Kichern im Schwimmbad, Herzklopfen, Hoffnungen, der erste verstohlene Kuss, wird man davon schwanger? Verabredungen, harmlose Feten im Wohnzimmer mit Dämmerlicht und Schmusetänzen: "l'amour s'en va" von Francoises Hardy, Selbstaufklärung in der Mittagspause mit Oswald Kolle in der Illustrierten: ach, so geht das?

Wir waren alles andere als cool, wir waren so was von harmlos, naiv und uncool, dass sich die Jungen heute wegschmeißen würden vor Lachen über uns. Es war selbstverständlich, dass wir im Dunkeln mit Licht fuhren und beim Abbiegen den Arm ausstreckten. Wir waren höflich zu Erwachsenen und glaubten lange an das Gute.
Aber es war eine tolle, aufregende Zeit und mir tun all die Jungen leid, die aufgrund ihrer Zeit cool sein und mit der Mode gehen müssen. Sie wissen gar nicht, was ihnen alles entgeht. Der Zauber der Jugend, den es später niemals wieder gibt, geht baden in den ausgelatschten Turnschuhen, mit denen sie nullbockmässig alles niederwalzen, was uncool ist.

Schade eigentlich. Für uns war es schöner. Trotz allem.
Denk ich.

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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