Loveparade: Wut und Fassungslosigkeit eines Teilnehmers

Hier schildert ein Teilnehmer der Loveparade seine Eindrücke des Geschehens:

Achtung: der Autor hat seine Schilderung leicht geändert (nur präzisiert, nichts gelöscht)

Ich versuche seit 6,5 Stunden einzuschlafen. Ohne Erfolg. Zu frisch und zu heftig sind die Eindrücke von heute (gestern). Wer schuld ist, vermag ich noch nicht genau zu urteilen. Im Versuch nur das Ganze jetzt mal ein bisschen zu verarbeiten und erzähle euch meine Geschichte. Auch wenn sie ziemlich lang ist, hilft sie euch sicher ein etwas detailiertes und differenzierteres Wissen über gestern zu erlangen, sofern das von euch erwünscht ist. Ich bin keinem böse, der die mail nicht liest...

12:10 Uhr: Viel später als geplant brech ich mit meiner Freundin in Duissern mit dem Fahrrad auf in Richtung Neudorf-Süd. Ich bin nervös, ob es vielleicht jetzt schon zu voll ist und wir nicht mehr rein gelassen werden.

12:20 Uhr: Fahrrad abgestellt in der Krautstr. zwischen Grabenstr. und Sternbuschweg. Danach mit dem Besucherstrom auf der Grabenstr. in Richtung Karl-Lehr Str. gezogen. Super Stimmung auf der Straße unterstützt von lauter Musik aus den Wohnzimmern der Anwohner. Dann der erste Schock. Auf einmal geht nichts mehr. Rückstau bis in die Grabenstr.. Grund ist die viel zu späte Öffnung des Partygeländes und die zu wenigen Taschenkontrolleure für den großen Andrang.

12:30 Uhr: Schneller als erwartet durch die Kontrolle und aufs Partygelände. Verwunderung: Es ist total leer. Bei 2 Kontrollstationen (eine auf der Seite Düsseldorferstr. und eine Seite Sternbuschweg) scheint es mir nicht möglich, dass das Gelände bis zum Beginn um 14 Uhr auch nur ansatzweise voll ist.

14:00 Uhr: Nach gemütlichem Spaziergang über das Gelände suchen wir uns einen schönen Platz. Die Trucks lassen mit Ablauf des Countdowns auf der Abschlusskundgebungsbühne die Motoren und den Sound an. Wie stehen zwischen der Güterbahnhofshalle und der A59 (Höhe Float 13 bei der Startaufstellung). Bei uns: Gähnende Leere. Die Tänzerinnen und Tänzer auf den Trucks schmeißen Hüte und bunte Handschuhe in die "Menge", wobei jeder der was bekommen will auch was kriegt, es ist ja nichts los.

16:15 Uhr: Gute Stimmung! Mittlerweile bleiben die Trucks an ein und derselben Stelle stehen und wir sind ein Stück Richtung Norden gewandert, wo wir vor dem Truck 15 von Sunshine live bleiben und feiern. Das Gelände füllt sich allmählich, jedoch ist nach wie vor mehr als genug Platz.

16:50 Uhr: Nach knapp 3 Stunden Dauertanzen und wohlwissend, dass der eigentliche Umzug in 10 min vorbei ist, beschließen meine Freundin und ich zurückzugehen, da es langsam wirklich voll wird im nördlichen Gelände. Alle strömen in diese Richtung um gute Plätze für die Abschlusskundgebung zu ergattern. Wir sind rabenschwarz vom aufgewirbelten Staub und beschließen nach Hause zu fahren um uns den Rest gemütlich im Fernsehen anzusehen.

16:55 Uhr: An der Ausgangsrampe angekommen regt sich in mir ein ungutes Gefühl. Es kommen uns Massen an Menschen entgegen. Ich frag einen Polizisten, ob das wirklich der Ausgang sei und er sagt: "Ja. Die Eingangsrampe ist abgeriegelt. Daher versuchen die Menschen es jetzt über die Ausgangsrampe hereinzukommen". Mit uns wollen etliche hundert Menschen auch das Gelände verlassen und so quetschen wir uns seitlich der Ausgangsrampe nach unten in den Tunnel. Unterwegs die Rampe herunter ein unwirkliches Bild. Obwohl die Menschen oben am Ende der Ausgangsrampe aufs Gelände gelassen werden (wer soll sie auch daran hindern, Polizei gegen Eindringende Massen ist nicht vorhanden da es ja auch nur als Ausgang gedacht ist), scheinen das die Leute am Beginn der Rampe noch nicht zu sehen und ziehen sich ohne enges Gedränge umständlich an den Mauern hoch. Manche benutzen zu zehnt (!!!) kleine provisorische Lampen-Masten, die mit ein paar Schrauben an die Mauer geschraubt sind, anderen nehmen den gegen die Mauer gekippten Bauzaun um Höhe zu gewinnen und sich von oben Angekommenen hoch helfen zu lassen.

17:05 Uhr: Im Tunnel angekommen wundern wir uns was los ist. Vereinzelt Schuhe, ein paar Alkoholeichen, aber halt auch ein paar Bewusstlose werden behandelt. Vor uns ein junges Mädchen, dass eine üble Fleischwunde im Fuß wahrscheinlich von den Spitzen „Pins“ oben auf dem Bauzaun hat, kann es aber es nicht mit Gewissheit sagen. Wir biegen nach links in Richtung Sternbuschweg, um zu unseren Rädern zu gelangen. Voller Schrecken stellen wir fest wie voll der Tunnel ist, aber noch kommen wir voran. Ein paar Bewusstlose werden abtransportiert und als wir nach ein paar Metern an der Eingangsrampe ankommen bekomme ich Panik. Adrenalin schüttet sich in Sekundenbruchteilen in meinem ganzen Körper aus. Es kommt warme, verbrauchte Luft aus dem endlos langen Tunnel in Richtung Sternbuschweg. Eine undurchdringliche Masse Menschen drückt uns entgegen. Menschen klettern an einem Container hoch und von dort aus über „Räuberleitern“ und mit Hilfe der bereits oben Angekommen aufs Festivalgelände. In Panik schnapp ich die Hand von meiner Freundin und ruf ihr zu: „Wir müssen in die andere Richtung, da kommen wir nicht durch.“

17:10 Uhr: Am Ende des Tunnels in Richtung Düsseldorferstr. angekommen ein Stau. Wir kommen nicht auf die Düsseldorferstr., da frustrierte Raver (die nun endlich nicht mehr in den Tunnel gelassen werden) den Eingang (der gleichzeitig auch unsere Ausgang ist) blockieren. Nichts geht für einen Moment, aber wir haben die Häuser erreicht. Die bedrückende schwarze Wölbung des Tunnels liegt zum Glück hinter uns.

17:14 Uhr: In diesem Moment geschieht laut Medienberichten 150 Meter hinter uns das Unglück. Wir bekommen davon nichts mit, da wir soeben durch einen Rettungsweg raus geschleust werden auf die Düsseldorferstr. Richtung Süden. Der Plan ist am Grunewald entlang in den Sternbuschweg zu laufen um auf diesem Weg zu unseren Fahrrädern zu gelangen.

17:20 Uhr: An der A59 Auffahrt/Abfahrt DU-Hochfeld geh ich zum ranghöchsten Polizisten und bitte ihn die A59 als Notausgang freigeben zu lassen, da die Menschen das Gelände kaum noch verlassen können aufgrund der andrängenden Menge auf der Ausgangsrampe. Er sagt mir, dass dies soeben geschehen sei. Tatsächlich sieht man die Ersten die herunter kommen. Mir wird wohler, obwohl mich die enorm zunehmenden Sirenen irritieren.

17:30 Uhr: In Höhe Ballkontakt versuchen (wie die ganze Strecke entlang) sich Raver durch Gebüsche an der Polizei vorbei aufs Gelände zu schleichen. Zwei haben sich hinten an einen anfahrenden Feuerwehrwagen drangehangen um aufs Gelände zu kommen.

17:35 Uhr: Ein bizarres Bild liefert sich mir: Uns kommen kurz vor der Ecke Sternbuschweg/Karl-Lehr Straße mehr und mehr heulende junge Frauen entgegen. Ich dachte mir: Die haben bestimmt die ganzen Verletzten aufgrund der gescheiterten Bauzaunüberquerungen gesehen und die vielen Alkoholleichen. An der Ecke dann enorm Blaulicht und Sirenen. Soviel, dass man sich schon gar nicht mehr danach umdreht. Krankenwagen biegen ein. Niemand sonst wird mehr durchgelassen zum Tunnel.

17:40 Uhr: Wir stehen an der Krautstr. in der wir die Fahrräder abgeschlossen haben. Sie ist abgesperrt, auf höfliche Nachfrage werden wir von der Polizei in die Straße gelassen. Die Polizisten wirken verschlossen, irgendwie seltsam.

17:45 Uhr: Eingebogen in die Kortumstr. (um den Menschenmassen auf dem Sternbuschweg zu entgehen) ruft mich meine Mutter an. Sie ist total aufgelöst. Schon an ihrem: „Oh Gott sei Dank, dass ich Dich erreiche“ höre ich, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Ich denke sofort an meinen Bruder. Sie sagt mir, dass grade auf Radio-Du gemeldet wurde, dass es eine Massenpanik mit 10 Toten gab. Sofort begreife ich was passiert sein muss und auch mir schießen unmittelbar die Tränen in die Augen und ich fange mitten auf der Straße an zu weinen. Meinem Bruder geht es zum Glück gut. Aber was ist mit all den vielen Freunden und Bekannten die auf das Gelände wollten? Ich bin fassungslos. Wir ertragen die Sirenen nicht mehr und fahren durch bis zur Lotharstraße.

17:50 Uhr: An der Mülheimerstr. angekommen eine unfassbare Masse an Krankenwagen aus Richtung Mülheim kommend.

18:00 Uhr: Zuhause angekommen bestehen die nächsten Stunden daraus fassungslos auf den Fernseher und ins Internet zu starren. Ich begreif es einfach nicht. Ich begreif einfach nicht, dass dieser Tag (auf den ich mich seit der Bekanntgabe vor 3,5 Jahren freue) zu einer Tragödie wird, die Duisburg in eine Reihe mit Eschede, Erfurt oder München setzt. Aufgrund der Nähe zum Güterbahnhof klappt selbst hier das Handynetz nur zeitweise und ich erreich erst nach 5,5 Stunden den letzten Bekannten und habe endlich Gewissheit, dass alle unversehrt sind.

Meine Gedanken sind nun bei denen, die nicht so viel Glück hatten wie wir und entweder unter den Opfern sind oder einen geliebten Angehörigen verloren haben.

9 min vor dem Unglück standen wir wenige Meter von dieser Stelle entfernt.
Ganz Abseits der Frage ob das Gelände dafür geeignet ist oder ob es zu klein war, stellt sich mir eine einzige für mich entscheidende Frage, bei der ich mich sehr wunder, dass sie bislang in den Medien nicht groß diskutiert wurde:
„Warum wurde das Gelände an der Eingangsrampe abgesperrt ohne zuvor an den Tunneleingängen für weitere Besucher gesperrt zu werden?"

Wäre erst keiner mehr in die Tunnel gelassen worden, hätten die Leute im Tunnel noch problemlos auf dem Gelände Platz gefunden. Der stete Abgang von Menschen hätte die Lage nach kurzer Zeit ohnehin wieder entspannt, so dass man VOR den Tunneln später wieder sogar ein paar Leute hätte durchlassen können. Selbst wenn man viele Leute hätte wieder zum Hauptbahnhof zurückschicken müssen. Auf dem Sternbuschweg war es so entspannt, dass sogar normale Verkehrsführung möglich war. Es hätte vielleicht für viel Unmut und Enttäuschung bei Leuten gesorgt, die ohne Party wieder hätten nach Hause fahren müssen. Aber es wäre niemand zu Schaden gekommen.

Jedoch die Eingangsrampe abzuriegeln während sich Menschen im Tunnel quetschen und nach wie vor Menschen von hinten in die Tunnel strömen ist für mich ein katastrophaler, unentschuldbarer Fehler, der heute viele Menschenleben gekostet hat.

Ich bin wütend über diese Fahrlässigkeit und einfach traurig, dass es in Duisburg passieren musste. Die Party war zuvor super. Alle Menschen glücklich und gut gelaunt. Es hätte wirklich das Image von Duisburg aufpoliert. Ich bin hier aufgewachsen, ich habe hier viel erlebt. Und ein Gefühl, dass viele Duisburger glaube ich mit mir teilen schleicht sich gerade wieder ein: Es soll einfach nicht sein, dass diese Stadt mal eine Sternstunde erlebt…

André Frett

Autor:

Wochen Magazin Kamp-Lintfort aus Kamp-Lintfort

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