Kurze Replik zum Gastkommentar der Verena Schäffer vom 24.03.2012

Zum Thema Equal Pay Day: EN-Grüne für garantierte Lohngerechtigkeit ist in der Witten aktuell vom 24.03.2012 ein Gastkommentar der ehemaligen Landtagsabgeordneten und Frauenpolitikerin Verena Schäffer abgedruckt. Deutschland, so die Kommentatorin, ist mit Blick auf die Lohngerechtigkeit Schlusslicht in Europa. Deutschland bildet einen "traurigen Rekord in der Geschlechterdiskriminierung." Ich gehe noch weiter: Meiner Meinung nach können wir, bezüglich der Lohngerechtigkeit und der Beschäftigungsgerechtigleit, auch einen Rekord in der Behindertendiskriminierung konstatieren. Diese Diskriminierung betrifft vor allem die behinderten Akademikerinnen und Akademiker. Trotz ihrer hohen Qualifikation, die über der einer oder eines behinderten Beschäftigten einer Werkstatt für behinderte Menschen liegt, gelingt es ihnen nur sehr selten bis gar nicht gerade im wissenschaftlichen Feld Fuß zu fassen und hier vielleicht sogar Führungspositionen zu besetzen. Auffällig ist diese Art von Benachteiligung gerade in dem Feld, das die Behinderten selber betrifft, also dem Feld der Behindertenarbeit, Behindertenpädagogik, Sonderpädagogik und - das ist dann ganz perfide - Inklusionspädagogik. Hier herrscht wohl noch eine paternalistische Gewaltausübung durch die sich in diesem Feld profilieren wollenden Nichtbehinderten vor. In Anlehnung an JACKMAN (vgl. 1996, 18) hat Wolfgang JANTZEN den Paternalismus seitens des machtausübenden Behindertenhilfesystems folgendermaßan definiert: Unter diskriminierenden Handlungen auf dem Feld der Behindertenhilfe sind zu verstehen:
"- der Anspruch, die wirklichen Interessen der Benachteiligten besser verstehen zu können als diese selbst;
- der Anspruch moralischer Überlegenheit gegenüber der Gruppe der Benachteiligten und die damit verbundene[...] beanspruchte letzte Entscheidungsgewalt über deren wirkliche Interessen;
- die emotionale Bekundung der Wohltäterschaft;
- die Nachahmung von Eltern-Kind-Beziehungen;
- die Kriminalisierung der Benachteiligten bei Durchbrechen der von den Überlegenen vorgegebenen Grenzen (auch ein - u. U. sozialpolitisches - Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Herrschenden, in Form von Aussagen wie 'hättest du das und das nicht so gesagt/veröffentlicht, dann hätten wir uns einigen können/dann hätte ich mich auf dich eingelassen! Aber wenn du so vorgehst, wie du es getan hast/tust, dann bin ich auch nicht bereit dir entgegen zu kommen' - CR) [...];
- die Überprüfung der Würdigkeit, Leistungen oder Zuwendungen zu erhalten;
- die sentimentale Selbstdefinition der vorgeblichen Wohltäter und Wohltäterinnen, wobei Sentimentalität schnell in Terror umzuschlagen vermag, sobald sich ihr Objekt nicht als dankbar erweist" (ders. 2001, 65).
Die Behinderten haben sich scheinbar nach dem Willen der sie beherrschenden Nichtbehinderten, in Anlehnung an Paulo FREIRE, in eine "Kultur des Schweigens" zu begeben. Und das ist eine "Kultur der Abhängigkeit, in der die beherrschte, die unterdrückte Klasse sich nicht ausdrücken kann" (SCHREINER et al. 2007, 93) und darf.
Deshalb muss auch hier festgehalten werden, dass es ohne gesetzliche Regelung offensichtlich nicht geht. Die Frage der Verena Schäffer müsste für den 01. Mai dann also lauten: "Warum fordern die Gewerkschaften nicht mal am Tag der Arbeit 'Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit für Männer und Frauen'" und behinderte Akademikerinnen und Akademiker?

Literatur:
JACKMAN, M.: The Velvet Glove. Paternalism and Conflict in Gender, Class, and Race Relations. Berkeley: University of California Press, 1996.
JANTZEN, W.: Unterdrückung in Samthandschuhen - Ünber paternalistische Gewaltauslübung (in) der Behindertenpädagogik. In MÜLLER, A. (Hg.): Sonderpädagogik provokant. Luzern 2001, 57-68.
SCHREINER, P. et al. (Hg.): Paulo Freire: Unterdrückung und Befreiung. Bd. 1. Münster 2007.

Autor:

Dr. Carsten Rensinghoff aus Witten

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