DER NOMADE

Ich gebe zu, Herbert war schon immer gewöhnungsbedürftig. Aber mich interessierten noch nie Menschen, deren Lebenswege am Reißbrett entworfen wurden. Und eines war sicher:
Herberts Herkunft ersetzte ihm nicht die Biographie. Dazu hätte er seinen Vater schon kennen müssen.
„Da wird man schnell heimatlos, “ lächelte Herbert und ich wusste, wovon er sprach. Das Wort Heimat hatte für ihn einen anderen Klang.
Deswegen beschloss Herbert auch eines Tages nicht mehr zu verreisen. Denn dort, wo er nun letztlich lebte, fühlte er sich sicher.
„Wissen Sie, “ sagte er im Tonfall eines Bauern, der die Jahreszeiten nicht aus dem Auge verlor, „die Zahl der Menschen, die sesshaft leben, nimmt ständig ab. Bald wird es keinen Menschen mehr geben, der dort lebt, wo er geboren wurde.“
„Das ist die neue Völkerwanderung…,“ sagte ich, um etwas zu antworten.
„Nomaden…, “ lächelte Herbert ohne etwas beweisen zu wollen. „Nomaden. Für mich ist das nichts,“ und er schüttelte unmerklich den Kopf, „ich kann diese motorische Unruhe, von der die Menschheit befallen ist, sowieso nicht leiden. Selbst noch beim Essen laufen sie herum...“
„…fast Food,“ sagte ich. „fast Food…“
„ …und dafür bezahlen sie noch,“ lächelte Herbert amüsiert.
„Ja, “ sagte ich, „vielleicht haben Sie recht. Wer zu Hause bleibt, wird eher die Veränderung der Welt registrieren, als der, der ständig unterwegs ist.“
Herbert nickte. „Ich stand in meinem Leben sowieso immer im Abseits,“ sagte er und sah mir dabei fest in die Augen. „ Da wird man erfinderisch. Und so war mir schon als Kind klar, dass ich meine Heimat verstecken musste, damit man meinen Schatz nicht zerstörte.“
„Und wo haben Sie ihre Heimat versteckt?“ fragte ich naiv wie ein Kind.
Herbert tippte sich an die Stirn:
„Hier trage ich alles mit mir herum. Alles, was mir wichtig ist,“ ereiferte sich Herbert und hob gleichzeitig seine Hände, als müsste er sich entschuldigen.
„Für mich," sagte er, "gibt es sowieso keinen Weg, der mir zu weit wäre. Denn ich suche immer wieder rudimentäre Wort- oder Bildfetzen, die mich überraschen und mir so die Welt erklären. Kein Stromausfall auf der Welt kann diese Bilder in meinem Kopf zerstören.
Warum also soll ich da nicht zu Hause bleiben? Das ist meine Globalisierung,“ lachte Herbert über seinen Brillenrand hinweg und bot mir eine Zigarette an.
„Wer aber in seinem Zimmer darauf hofft den Stillstand zu bewahren, über den geht die Geschichte auch hinweg. Da können Sie sicher sein,“ antwortete ich sachlich.
„Ja, dieses: „Verweile doch, du bist so schön!“ gibt es nur noch im Gedicht,“ nickte er. „Aber gerade deswegen trage ich dieses Gedicht mit mir im Kopf herum,“ lächelte Herbert und tippte sich an die Stirn.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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