Wenn (auch) die Seele krank wird: Zum gesellschaftlichen Stellenwert der Depression

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Müssen Körper und Seele
immer erst Hand in Hand erkranken
und braucht es immer erst die Diagnose Herzinfarkt oder Krebs,
um der Depression
Anerkennung und Berechtigung
zu geben?

So lautete die ganz spontane Frage im Anschluss an den ebenso interessanten wie informativen Vortrag über den Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und Depression von Frau Dipl.-Psych. Bärbel Kolbe am 31.05.12 an der Augusta-Kranken-Anstalt Bochum http://www.lokalkompass.de/bochum/ratgeber/depression-und-angst-bei-psychoonkologischen-patienten-d190191.html ; eine Frage, die sich dem aktiven Mitglied im Bochumer Bündnis gegen Depression nahezu zwangsläufig aufdrängte und deshalb nach dem Vortrag auch gestellt wurde.
Denn die vielen, auf die schwere körperliche Krankheit Krebs zutreffenden Symptome, die Denk- und Verhaltensweisen der Patienten und der Angehörigen sowie deren veränderte Lebenssituation sind im Grunde gleichermaßen ungefiltert auf die Depression als eigenständige Erkrankung übertragbar:
Nicht nur die schweren somatischen Erkrankungen, auch die Depression und andere psychische Beschwerdebilder sind Familienkrankheiten, die Angehörige durch zunehmende emotionale Belastung über einen unkalkulierbar langen Zeitraum in den Strudel der Erkrankung ziehen.

Anders als bei den gesellschaftlich anerkannten körperlichen Krankheiten kommt bei den psychischen Störungsbildern noch das Stigma des Absonderlichen hinzu, unter dem auch die Angehörigen in besonderem Maße zu leiden haben, könnten sie doch schließlich von außen her betrachtet auch noch schuld an der Erkrankung des Familienmitglieds sein.
Es werden deshalb gerade auch bei psychischen Erkrankungen die Angehörigen zu Patienten zweiter Ordnung, die sich in Selbsthilfegruppen verzweifelt selbst zu unterstützen suchen, so es sie denn gibt.

Die plötzlich veränderten Rollen, weil der Körper unter einer Depression derart erschöpfen kann, dass einfachste Handgriffe nicht mehr funktionieren und die Konzentrationsfähigkeit in kaum nachvollziehbarer Weise erlahmt, und die sozialen, beruflichen und finanziellen Unwägbarkeiten bis hin zur Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes nicht nur des Erkrankten selbst, sondern auch des sich unter der Belastung verändernden Partners sind schwere Sorgen, die die gesamte Familie erdrücken können.

Hinzu kommt die sich einstellende, möglicherweise permanente Angst vor Suizidversuchen des Betroffenen, der auf extrem sensible Weise verinnerlicht hat, wie sehr er gerade denen, die er liebt, zur Last fällt, ohne dass er in akuten Phasen die Kraft besitzt, zu ändern, was er am liebsten auf der Stelle ändern möchte: andere nicht zu belasten und möglichst schnell einfach gesund zu sein.

Die Unsicherheit bezüglich des Krankheitsverlaufs ist extrem hoch und die des erhofften Verlaufs einer Gesundung ist gerade bei der nicht greifbaren psychischen Erkrankung weder verlässlich vorhersagbar, noch ist vorstellbar, wie sie vor sich gehen muss. Der Erkrankte selbst ist in besonderem Maße gefordert, immer wieder kund zu geben, an welchem Punkt er steht, und ist gerade dabei vollkommen überfordert, weil er innerlich völlig entwurzelt ist und sich selber nicht mehr kennt. Die Erwartungshaltung des Umfelds wirkt zusätzlich belastend.

Die Familie möchte helfen, ist nicht in der Lage, die Erkrankung zu verstehen und fühlt sich bei der Unterstützung der Erkrankten von den Behandelnden nicht selten sehr allein gelassen, weil sie nicht in dem Maße beteiligt werden, in dem sie es sich wünschen.
Gerade nach den Klinikaufenthalten sind sie die wichtigsten Betreuer. Sie, die eine Stütze sein möchten und das Gefühl haben, dem Kranken eine Stütze sein zu müssen, zerbrechen dann zunehmend als Sekundärpatienten an der Erkrankung des Erkrankten; ein Balanceakt, der kaum zufriedenstellend zu meistern ist und allen Beteiligten eine große Achtung schuldet.

Der „Sturz aus der normalen Wirklichkeit“ trifft deshalb nicht nur auf die Krebserkrankung zu, sondern auch in ganz besonderem Maße auf die psychische Erkrankung, da eine Diagnose die Vergangenheit immer auch zu einer Lüge werden lässt. Die bislang gelebte, vermeintlich heile Welt fällt in sich zusammen, Vergangenes bekommt mit einem Mal eine völlig andere Färbung. Auch die Depression vertreibt den Patienten samt Familie aus dem Paradies und wer sich jemals als geheilt bezeichnen kann, der darf sich glücklich schätzen. Mit kompetenter Hilfe lässt sich leben lernen, mit Rückfällen muss jederzeit gerechnet werden.

Denn auch bei einer Depression übersehen die Parteien, dass es nicht in erster Linie darum gehen kann, sie möglichst schnell zu überwinden und geheilt zu sein, sondern zu lernen, mit ihr umzugehen und sie so zu integrieren, so dass man mit ihr leben kann. Die Erwartungshaltung an eine rasche und vollkommene Genesung ist jedoch leider ausgesprochen groß.

Der Arbeitgeber erwartet die möglichst schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz, Freunde und Bekannte möchten den Betroffenen wieder „normal“ in ihrer Mitte sehen und werden des Wartens oft schnell überdrüssig, weil die Spaßgesellschaft langwierige Erkrankungen als hinderlich erlebt. Die Depression siebt schnell die nur vermeintlich echten Freunde aus.
Die Familie ist darauf angewiesen, dass das kranke Mitglied schnellstens wieder funktioniert und macht es durch ihr weiterhin normales Lebenstempo unmissverständlich deutlich.

Dem Erwartungsdruck von außen steht der Erkrankte, in dessen Händen die erhoffte Genesung liegt, oft machtlos gegenüber. Anders als bei den somatischen Erkrankungen kann nur er selber mit Hilfe seiner kognitiven Fähigkeiten dazu beitragen, den Verlauf der Krankheit positiv zu steuern und eine Besserung herbeizuführen, wozu ihm wegen der ihn lähmenden Erschöpfung oft genug gerade die Kraft fehlt, die er dazu so dringend braucht. Nicht umsonst ist der Suizid als Flucht aus dem Gefängnis Depression der letzte und einzige Weg, den der befallene Mensch noch gehen kann.

Zu dem Druck von außen tritt die Angst vor Rückschritten hinzu. Das Abgleiten in Rückfälle bleibt dem Erkrankten selber unerklärlich und wirkt sich durch das Verinnerlichen persönlichen Versagens unglaublich belastend aus. Er fühlt sich persönlich schuldig, die auf Genesung Hoffenden bitter zu enttäuschen und fühlt sich in der Schuld, Erklärungen zu liefern, die er nicht liefern kann, weil er die Prozesse in sich selber nicht verstehen, geschweige denn den Vorgang des Abrutschens nachvollziehen und erklären kann. Die minierenden Wege der Erkrankung, die Körper und Seele von innen auffrisst, bleiben unerklärlich.

Das intensive Erleben und seelische wie körperliche Empfinden der Erkrankung, der damit einhergehende soziale Rückzug, der Verlust von Freundschaften, das schließlich dunkle Erleben von Aussichtslosigkeit, an dessen Ende nur der Tod zu warten scheint, weil der Tunnelblick keinen positiven Lebensweg mehr zulässt, führen dazu, das sich deutschlandweit ca 10.000 Menschen jährlich das Leben nehmen. Fakten, die angesichts gesellschaftlich anerkannter körperlicher Leiden und Erkrankungen noch immer gerne übersehen werden.
Es gibt deshalb keinen Grund, eine derart schwere Krankheit zu verbergen und ihr die Berechtigung der eigenständigen Existenz absprechen zu wollen. Es ist nicht nur grundsätzlich derjenige krank, der eine körperliche Krankheit vorzuweisen hat.

Dem noch immer anhaltenden Trend der Stigmatisierung, der damit verbundenen Verdrängung einer leidvollen seelischen wie körperlichen Krankheit aus dem öffentlichen Bewusstsein und einer maximalen Akzeptanz als Begleiterkrankung körperlicher Krankheiten aktiv entgegenzutreten und durch Aufklärung über die Erkrankung die Selbstmordrate zu senken, ist in Bochum das erklärte Ziel des Bochumer Bündnis gegen Depression e.V. http://www.lokalkompass.de/bochum/vereinsleben/bochumer-buendnis-gegen-depression-jetzt-im-dritten-jahr-aktiv-d190422.html .

Auch wenn Depressionen naturgemäß oft eine Begleiterkrankung oder Folgekrankheit körperlicher Erkrankungen darstellen, treten sie auch eigenständig auf und gehören gesellschaftlich als solche anerkannt. Wer an einer Depression erkrankt ist, dem gehört das gleiche Mitgefühl geäußert, wie dem, der einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten oder eine Krebserkrankung diagnostiziert bekommen hat.

Anm.:Es handelt sich um einen freien Textbeitrag, der auf Erfahrungen Betroffener und Angehöriger beruht.
© Sabine Schemmann

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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