Fake-News? - Sozialgericht Dortmund: Hartz IV Regelbedarf für 2017 verfassungsgemäß

Urteil vom 21.06.2017, Az.: S 58 AS 5645/16

Eine aktuelle Pressemitteilung des Sozialgerichts Dortmund vermeldete ein wenig vorschnell, dass der Regelbedarf für das Jahr 2017 „verfassungsgemäß“ sei.

In der Pressemitteilung heißt es:
„Der seit 01.01.2017 für alleinstehende Langzeitarbeitslose geltende Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts von 409,Euro monatlich entspricht den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Dies hat das Sozialgericht Dortmund im Falle eines 31jährigen Arbeitslosen aus Hemer entschieden, der das Jobcenter Märkischer Kreis auf Gewährung höherer Grundsicherungsleistungen verklagt hatte. Der Kläger machte geltend, der bewilligte Regelbedarf sei zu niedrig und damit verfassungswidrig bemessen. Gegenüber seinen realen Ausgaben, insbesondere für seinen PKW, ergebe sich eine erhebliche Differenz.
Das Sozialgericht Dortmund hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Der Regelbedarf gemäß § 20 SGB II sei in nicht zu beanstandender Weise auf Grund der Einkommens und Verbrauchsstichprobe 2013 ermittelt worden.“

Was der Artikel unterschlägt ist bereits die Tatsache, dass das Urteil noch keinerlei Rechtskraft hat, weil gegen die Entscheidung Berufung vor dem LSG NRW eingelegt wird, sobald das Urteil zugestellt ist, teilte Rechtsanwalt Lars Schulte-Bräucker auf Rücksprache mit.

In der Urteilsbegründung heißt es:
„Die Höhe des Regelbedarfes seit 01.01.2017 ist zur Überzeugung des Gerichts durch den Gesetzgeber nicht zu niedrig und damit nicht verfassungswidrig niedrig festgelegt worden. Das Gericht hat sich daher nicht veranlasst gesehen, das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG zur Vereinbarkeit des § 20 Abs. 1a und 2 Satz 1 SGB II n.F. i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) einzuholen.“

Erste Internet-Recherchen nach der Vorsitzenden Richterin der 58. Kammer weisen Richterin Döring aus und „Richterin auf Probe“. Möglicherweise ist die Vorsitzende Richterin noch nicht einmal zwei Jahre beim Sozialgericht tätig.

Nicht das erste Mal

Bereits am 12.11.2009 hatte eine Dortmunder Sozialrichterin einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgegriffen und entschied über die Angemessenheit der Höhe der Regelleistung für Erwachsene.

Sie war Ihrer Zeit voraus und lag doch daneben.
"Die Vorsitzende Richterin Frau Dr. Evermann betonte gleich zu Beginn der Verhandlung: "Es gibt keinen Grund nicht zu entscheiden." Und: "Die Klage ist entscheidungsreif."
Nach Meinung der Richterin ist die Höhe der Regelleistung für Erwachsene verfassungskonform.

Nur 89 Tage später stellte der damals Vorsitzende Richter am Bundesverfassungsgericht, Präsident Prof. Dr. Dres.h.c. Hans-Jürgen Papier fest: Az. 1 BvL 1/09 . "Die Regelleistungen sowohl des Arbeitslosengeldes II für Erwachsene als auch des Sozialgeldes für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres genügen dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht.
Die einschlägigen Regelungen des so genannten "Hartz IV-Gesetzes" sind daher verfassungswidrig."

Mit heißer Nadel gestrickt

Bereits in der Bekanntgabe zur ersten Regelsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010, 1 BvL 1/09, rügten die Richter die Ermittlung der Regelsätze als „mit heißer Nadel gestrickt“.

Und diesmal?
Die 138 Seiten starke Einkommens- und Verbrauchsstichprobe EVS 2013 wurde am 05.10.2016 veröffentlicht.

Bereits am 17.10.2016 wurde ein Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (134 S.) als Drucksache 18/9984 eingebracht.

Und nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit (BA)vom 23.01.2017 versandte die BA unter dem Datum 26.11.2016 insgesamt 1.956.952 Änderungsbescheide um die „neu ermittelte“ Hartz IV-Erhöhung von 5 Euro zum 01.01.2017 zu verbreiten.

Erforderliche Korrekturen wie in der „Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales“ „Existenzminimum verlässlich absichern, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“ vom 30.11.2016 fanden keine Berücksichtigung.

Am 22.12.2016 wurde die gesetzliche Änderung § 8 - Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) veröffentlicht.

Das Existenzminimum ist keineswegs sichergestellt

Bleibt noch festzustellen, dass Hunderttausenden von Leistungsberechtigten nicht einmal das soziokulturelle Existenzminimum voll zur Verfügung steht. Auch wer Zahlen mag, darf bisweilen einen Blick in die Lebensrealität tun.

So musste die Bundesregierung auf eine Anfrage eingestehen, dass in den letzten zehn Jahren allein durch Hartz-IV-Sanktionen wurden rund zwei Milliarden Euro existenzsichernde Leistungen zurückgehalten wurden.

Außerdem müssen Hunderttausende von Leistungsberechtigten anteilig Kosten der Unterkunft selbst tragen, weil Ihre Mieten und Heizkosten, als unverhältnismäßig teuer bewertet werden.

Auch oft jahrelange Tilgungen von Mietkautionen und Darlehen führen regelmäßig zu weiteren Bedarfsunterdeckungen. Leistungsberechtigten wird so gleichsam durch die Hintertür das Existenzminimum weiter gekürzt.

Aber auch die bereits mehrfach vom Verfassungsgericht gerügte und bis heute von der Bundesregierung ignorierte Anpassung der Stromkostenpauschale mit der Konsequenz weiterer Mahngebühren und hunderttausendfacher Sperrgebühren belastet das Existenzminimum.

Ebenfalls nicht zu unterschätzen sind die sehr wohl vermeidbaren Folgekosten durch verschleppte Auszahlungen und langjährige Gerichtsverfahren um verweigerte und verschwiegene Sozialleistungsansprüche, Bewerbungskosten und Fahrtkosten.

Schufaeinträge und Altschulden aus Krediten gehören mit in das Bild der Verelendungspolitik.

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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