Wenn das Grundrauschen nicht aufhört, ziehe ich wieder aus...

Wenn das Grundrauschen nicht aufhört, ziehe ich wieder aus...

Ein großer philosophischer Gedanke, der beim heutigen Literatenbrunch mich sehr zum Nachdenken brachte.

Es geht um das Thema „Loslassen“ - loslassen von Dingen, die wir manchmal glauben, fest unter Dach und Fach zu haben. Ein guter Job, eine tolle Wohnung, soeben erworben aber mit einem Dauergrundrauschen aus der in der Ferne liegenden A 44 – oder gar ein charmanter Liebhaber oder Liebhaberin – alles Dinge, die wir anstreben und gerne festhalten. Am liebsten für immer.

Aber des Lebens Sinn ist „Abschied nehmen“. Immer wieder geht die Reise von vorne los – mal bedarf es nur weniger Kilometer und eine Wegegabelung zeigt uns auf, das wir den Weg, wie einst eingeschlagen, nicht mehr gehen können.

Manchmal durchwandern wir über Monate ganze Inseln von deren Anfang bis Ende, bis wir irgendwann an einem Punkt ankommen, wo keine Fähre mehr geht.

Dann bleiben wir auf einer Insel sitzen, obwohl wir tief im Herzen wissen, das wir sie am liebsten sofort verlassen würden. Das geht aber nicht immer, wenn wir leiden am MaA. „Was ist das denn, MaA ?“, werden Sie fragen.

Es ist das, was die sozialpsychologische Forschung der engen Paarbeziehungen unter einem „Mangel an Alternativen“ versteht. Wir bleiben nicht beim Partner, weil wir ihn lieben oder mit ihm gemeinsame Projekte durchführen – nein, es ist der Mangel an Alternativen, der uns dort verharren läßt, wo noch so halbwegs menschliche Kommunikation im engeren mentalen Sinne existiert.

Zu sehr an das alltägliche Grundrauschen gewöhnt, das wir schon lange nicht mehr hören, geben wir uns von unserem Schicksal geschlagen und bleiben auf der Insel ohne Fähre sitzen, geben die Hoffnung auf, sie je verlassen zu können und fügen uns in unser Schicksal.

Also gut trainiert sind wir, es auf der kargen Insel auszuhalten und nehmen im Winter bei strömendem Regen die Badewanne, um über die Strassen zu paddeln, statt uns Flügel wachsen zu lassen aus Wachs, mit denen wir der Sonne entgegen streben.

Im strengen psychologischen Sinn begehen wir den „hedonischen Fehler“, uns das Dasein „schön“ zu denken, bauen uns unsere kleine Welt im kleinen Hirn und finden das angepaßte Dasein gut. Diese Technik ist dem heiter gestimmten Menschen möglicherweise von Natur aus zu eigen – der zur Melancholie tendierende Mensch begeht diesen hedonischen Fehler nicht. Er sieht die Welt wie sie ist und wird möglicherweise im Winter bei strömendem Regen die Badewanne nicht nutzen, um damit die Straße zu überqueren. Schlimmstenfalls füllt er sie auf mit Rebensaft und trinkt sie langsam leer – der Wein der Erkenntnis hilft ihm über die schlimmen Zeiten hinweg.

Mein freigeistiger Freund, der es schon längst versteht, nur im Hier und Jetzt zu leben, weil er sich sämtlicher materieller Bürden entledigt hat, begeht weder „hedonische Fehler“, noch schüttet er sich sein Badebehältnis mit Rebensaft voll. Wenn er das „Grundrauschen“ hört, zieht er weiter, immer weiter, läßt dabei alles hinter sich und kommt immer wieder an, irgendwo auf der Welt, wo er sich anpaßt bis zur nächsten Wegegabelung. Dann wirft er eine Münze und zieht weiter – oder wird weiter gezogen von denen, die noch anhaften.

Er haftet schon lange nicht mehr an, hat gelernt, in Genügsamkeit sein Brot zu essen und Gott täglich zu danken für seine Gesundheit, für das, was von der Natur noch übrig geblieben ist.

Ob er denn glücklich sei, alleine zu leben, ob er sich nicht manchmal sehne nach Partnerschaft, nach jemanden, mit dem man alles besprechen kann, frage ich ihn manchmal.

Natürlich sehne er sich nach Umarmung und jemanden, der ihm Kraft gibt, lautet die Antwort. Aber in vielen Jahren habe er es auch zu schätzen gelernt, keine Sofakissen gerade rücken zu müssen, nachts aus dem Kühlschrank die Salami zu essen, die für die Gäste gedacht ist, die zwei Tage später kommen.

Nun ja, gebe ich zu, es habe schon einen gewissen Reiz, FREI zu sein – selbst wenn ich eine große Wohnung mit jemanden teile mit eigenen Räumen für mich, bleibt ja immer noch die gemeinsame Küche. Und was ist, wenn ich mich dort mal gemütlich hinsetze mit einer Flasche Chateau Lafitte und einer Packung Zigaretten ? „Mußt Du schon wieder rauchen und Rotwein trinken ?“, könnte die Frage lauten. Und dann, dann muß ich aus lauter Protest zum Glas und zur Zigarette greifen und nicht mehr aus Lust. Lebe ich aber alleine, kann ich mir den Protest ersparen und lebe gesund.

„Sie besaß nichts, aber sie besaß ihr Leben“, so könnte auf meinem Grabstein dereinst geschrieben stehen.

Freunde, Liebhaber, Ehemänner, Kinder – nichts und niemanden können wir besitzen. Geld erst recht nicht – es ist eher von den Banken verliehen und die Häuser fliegen uns von dannen, wenn der Orkan kommt oder die Flut.

Frei sein auf dem großen Wanderweg des Lebens, dort einkehren, wo ein Licht scheint und uns die Türen offen gehalten werden. Gastfreundlich sein, wenn wir Brot im Rucksack haben und mit denen teilen, die hungrig sind. Bedingungslose Liebe verschenken, statt gierig Herzen zu zerstören...

ICH HABE NICHTS, ABER ICH HABE MEIN LEBEN !

Besungen haben einen solchen Zustand viele Leute, beschrieben haben es viele Autoren – von Knut Hamsun bis Hermann Hesse.

Wunderbar besingt es Nina Simon mit dem folgenden Lied:

Ain't Got No, I Got Life - Nina Simone

http://www.youtube.com/watch?v=L5jI9I03q8E

Keine hedonischen Fehler mehr, das Grundrauschen entfernen, keine Kompensation mehr der Mängel an Alternativen – leben, fliegen, sich selbst lieben, die Freiheit fühlen im Herzen und im Kopf !

Autor:

Karin Michaeli aus Düsseldorf

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