Die Heilerin – nur ein Märchen?

Es war einmal eine Heilerin. Die verstand sich nicht nur auf die Heilkunst der Kräuter sondern auch auf die Magie des Herzens. Wann immer Bewohner des Reiches mit einem Leiden zu ihr kamen, gab sie ihnen das rechte Heilmittel: hier und da ein Kräutlein oder einen Trank, aber häufig auch Fröhlichkeit, ein Lachen oder Verständnis und Nächstenliebe, denn sie wusste um die große Heilkraft dieser Elemente. Mit den Jahren erwarb sie durch ihre Kunst hohes Ansehen und Beliebtheit im Volk.

Eines Tages bemerkte die Königin, dass der Heilerin von ihren Untertanen weit mehr Bewunderung entgegengebracht wurde als ihr selbst und Neid und Missgunst vergifteten ihr Herz. Obwohl sie selbst in der Vergangenheit die Dienste der Heilerin in Anspruch genommen hatte, begann sie, arglistig Lügen über diese zu verbreiten, um sie in Misskredit zu bringen.
Ihrem Sekretär, der längst unbemerkt aus dem Hintergrund die Geschicke des Volkes lenkte, dabei jedoch weniger auf dessen als viel mehr auf sein persönliches Wohl bedacht war, war die Heilerin schon längst ein Dorn im Auge. Zu oft schon war sie seinem eigennützigen Treiben auf die Schliche gekommen und hatte damit seine heimliche Macht in Gefahr gebracht.

Sowohl die Königin als auch der Sekretär beherrschten vortrefflich die Kunst der Intrige und trieben ihr hinterhältiges Spiel der Verleumdungen intensiv voran. Bereits nach kurzer Zeit herrschte große Zwietracht unter den Untertanen. Wann immer etwas schief ging, wo auch immer ein Unglück geschah, besann man sich der üblen Gerüchte und lastete alles Leid der Heilerin an. Wer gestern noch ihre Dienste in Anspruch genommen hatte, beschimpfte sie heute als Hexe.
Die Wenigen, die dieses heimtückische Spiel durchschauten, wandten ihre Blicke ab und überließen die Heilerin feige ihrem Schicksal. So kam es, dass diese schließlich mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt wurde.

Verbittert über die erlebte Niedertracht und erlittene Ungerechtigkeit zog sie sich in die Tiefen der Wälder zurück. Dort rief sie in wiederkehrenden Ritualen höhere Mächte um Hilfe an und belegte ihre früheren Gefährten mit dem Fluch der Gerechtigkeit:

„Was du beiträgst zu des Anderen Unglück,
das falle auf dich selbst tausendfach zurück!“

Der Fluch der Heilerin verfehlte seine Wirkung nicht. Die Menschen, die ihr übel nachgeredet oder leichtfertig alles geglaubt hatten, wurden nun selbst zum Opfer peinlicher Gerüchte. Andere, die ihr Hilfe verweigert hatten, standen nun ihrerseits in Notsituationen allein. Jeder neidete dem Nachbarn seinen Erfolg. Missgunst breitete sich aus wie eine Seuche.

Im Laufe der Zeit sprachen sich die Geschehnisse herum und immer mehr Menschen aus den umliegenden Siedlungen mieden angewidert den verfluchten Ort. Der einst erfolgreiche Handel kam zum Erliegen, selbst den Kindern wich man aus wie Aussätzigen.

Zunächst Einzelne, später immer mehr Untertanen flehten ihre Krone um Hilfe an. Das Herz der Königin jedoch war indes durch das Gift der Bosheit zu Stein geworden, dem Sekretär floss statt Blut nur noch schwarzes Pech durch die Adern. Beide hatten aus Eitelkeit und Selbstsucht ihre Menschlichkeit verloren.

Aus einer ehemals blühenden Gemeinschaft war ein düsterer Ort voller Trostlosigkeit geworden. Die Kranken fanden keine Linderung mehr. Das Volk litt unter der Macht des Bösen. Das einzige Heilmittel – die Magie des Herzens – hatte man aus der Gemeinschaft verbannt.

Schließlich begriff das Volk, was es getan hatte und jagte die Königin und ihren Sekretär fort. Die Heilerin dagegen bat man inständig um Vergebung. Dafür jedoch war es zu spät. Zwar kehrte die Heilerin zurück, die Heilkraft des Herzens jedoch vermochte sie diesen Menschen nicht mehr zu geben. Die heilende Kraft dieser großen Magie hatte das Volk durch sein leichtfertiges Handeln auf ewig verwirkt.

Autor:

Ilia Faye aus Essen-Ruhr

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