"In Palästina ist alles politisch, auch die Schafe"

Gabriele Wulfers im Gespräch mit Jean Emile von Operation Dove. Foto: privat
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von Gabriele Wulfers

Die Hattinger Lehrerin Gabriele Wulfers vom Gymnasium Waldstraße lebt für drei Monate in Palästina. In ihrem „Sabbatjahr“ nimmt sie über Pax Christi teil an einem Begleitprogramm mit dem Ziel, zusammen mit weiteren international besetzten Helfergruppen vor Ort für eine Deeskalierung der Gewalt zu sorgen. Für den STADTSPIEGEL berichtet sie persönlich von ihren Erlebnissen. Hier kommt ein dritter Bericht.

„Wenn es um Schafe, Schafherden und Hirten geht, gehen vielen von uns vermutlich zunächst romantische Bilder durch den Kopf; vielleicht fragen wir uns auch noch, warum ein Schäfer diese Lebensform wählt und ob er davon leben kann.
In Palästina ist jedoch alles politisch, auch das Schafe-Hüten. Die Begleitung von Schäfern und ihren Herden ist jetzt im Frühjahr eine unserer Hauptaufgaben in den South Hebron Hills.
Was das bedeuten kann, haben Lennart, mein Mitstreiter aus Schweden, und ich gleich bei unserem ersten „Schutz durch Gegenwart“ - Einsatz (protective presence) erfahren:
Wir besuchen einen palästinensischen Schäfer, der um protective presence gebeten hat. Zunächst erzählt Jeebrin uns vom Schicksal der Familie: Ursprünglich stammen er und seine große Familie aus Qawawis, einem kleinen Dorf in der Nähe. Sie wurden mehrfach vertrieben, sowohl aus ihrem Haus als auch von den Weiden. Letzte Woche erst wurde er von Siedlern angegriffen und ein Stein traf seine Brust. Er zeigt uns eine Röntgenaufnahme, der Arzt habe gesagt, es sei nichts gebrochen, aber er hat Schmerzen in der Brust und kann nachts nicht schlafen. Die Unterhaltung ist mühsam, da Jeebrin kein Englisch spricht, wir natürlich kein Arabisch; ein Sohn übersetzt, aber auch hierbei sind wir nicht ganz sicher, ob wir alles richtig verstehen.
Dann brechen wir mit Jeebrin und seiner kleinen Herde auf: ungefähr 25 Schafe und Ziegen, davon 8 trächtig, und einige Lämmer. Wir gehen gemütlich ein kleines Stück und überqueren dann eine Straße, die zu einem israelischen Outpost führt. (Outposts sind kleine israelische Orte in Area C, die selbst nach israelischem Recht illegal sind, aber trotzdem von der israelischen Regierung unterstützt werden, z.B. haben sie gute Zufahrtsstraßen und sind an die Wasser- und Stromversorgung angeschlossen. In der Regel sind sie der Beginn einer neuen israelischen Siedlung.) Eine ganze Zeit lang ist alles friedlich, die Tiere erfreuen sich des frischen Grüns auf der anderen Seite der Straße und Jeebrin und seine Frau passen auf, dass die Schafe und Ziegen nicht in das weiter unten gelegene Feld laufen. Einige Siedlerautos fahren vorbei, sie gucken, aber nichts passiert.
Dann hält ein Siedler an, steigt aus und fängt an, die Herde mit lauten und schrillen Schreien zurück auf die andere Seite der Straße zu treiben. Er lässt sich weder durch uns noch durch die Palästinenser aufhalten, auch nicht dadurch, dass weitere Internationals kommen: Jehuda Schaul von der israelischen Organisation Breaking The Silence führt eine Gruppe von Besuchern durch das Gebiet. Jehuda weiß natürlich, was zu tun ist, er ruft die israelische Polizei und weitere Kontaktpersonen.
Als erstes erscheint das israelische Militär, das immer in der Nähe von israelischen Siedlungen und Outposts stationiert ist. Sie überprüfen Jeebrins Ausweis und behalten ihn ein. Es kommen weitere Siedler, einige fahren wieder ab, auch die palästinensische Familie ist versammelt, bei den Tieren auf der anderen Seite der Straße. Als endlich die Polizei kommt und das Kommando übernimmt, werden unsere Pässe kontrolliert und registriert und unsere Kameras überprüft. Es geht offensichtlich darum, ob der Schäfer seine Herde im Feld hat grasen lassen; einige meiner Fotos könnten das widerlegen. Der Polizeichef persönlich sucht intensiv im Feld nach Spuren. Das Ganze endet nach ungefähr zwei Stunden damit, dass wir unsere Pässe und Kameras zurück erhalten und Jeebrin abgeführt wird. Nachmittags sind wir sehr erleichtert zu hören, dass er nur für kurze Zeit auf der Polizeiwache war, allerdings muss er eine Strafe von 500 Schekel bezahlen – viel Geld für ihn und seine Familie.
Jeebrins Beispiel ist kein Einzelfall. Immer wieder werden die palästinensischen Schäfer mit ihren Herden von Siedlern angegriffen, mit Steinen beworfen und Tiere wie Menschen verletzt.
Deshalb begleiten wir auch Nael mit seiner Herde von etwa 100 Tieren. Im Unterschied zu den meisten ist Nael nicht verheiratet, deshalb geht er größere Risiken ein. Vergangenen Montag waren wir mit ihm und zwei Mitgliedern von Operation Dove, einer italienischen Organisation hier in der Gegend, unterhalb des Outposts Mitzpe Yair. Die ganze Zeit über beobachteten wir die Bewegungen im Outpost, jedes ankommende oder abfahrende Fahrzeug wurde registriert, aber alles blieb ruhig. An diesem Tag war für mich deshalb die größte Herausforderung, dass alle dachten, ich könne so schnell wie die Ziegen und Schafe den Berg hoch klettern, natürlich ohne jeden erkennbaren Weg. Aber ich habe es geschafft – wenn auch etwas langsamer als die anderen. An Tagen ohne Begleitung wird Nael regelmäßig von Siedlern angegriffen, manchmal von der Polizei verhaftet, aber bisher immer ohne Strafe wieder freigelassen.
Warum schildere ich das alles so ausführlich?
In der kargen Landschaft der South Hebron Hills sind die Herden Lebensgrundlage und wichtigster Besitz der Familien: Käse, Milch, Joghurt, Fleisch zum Eigenbedarf und für den gelegentlichem Verkauf.
Die traditionellen Weideplätze sind durch Bau und ständige Erweiterung der Siedlungen und Outposts erheblich eingeschränkt, zusätzlich beanspruchen Siedler immer wieder weiteres Land und verweigern den Tieren die kürzesten Wege zu den Weideplätzen. Vor allem im Frühjahr, wenn die Tiere trächtig sind, schaffen sie weite Umwege nicht; das gewaltsame Vertreiben gefährdet diese und die Jungtiere. Bei all diesen Übergriffen werden Siedler in der Regel vom Militär geschützt, die Polizei greift selten zu Gunsten der palästinensischen Bevölkerung ein; oft genug werden nicht die Angreifer, sondern die Angegriffenen verhaftet und bestraft.
In seltenen Fällen hat eine Klage gegen Siedlergewalt Erfolg. Dann darf dieses eine Tal oder der Weg über einen bestimmten Hügel per Gerichtsbeschluss von den Bewohnern eines Dorfes weiter benutzt werden. Dieses Recht gegen Übergriffe der Siedler durchzusetzen ist dann immer noch eine andere Sache. Hier wird die Unterstützung durch einheimische und internationale Organisationen dringend benötigt.

Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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