Das alte Shirt

Sie sass vor dem Fernseher, und manchmal nähte sie in solchen Momenten. Hier ein Knopf, da ein offener Saum, oder andere Kleinigkeiten. Nähen mochte sie nicht. Sie fand es ebenso stupide wie spülen. Aber heute hatte sie ein Teil, an dessen Erhalt ihr viel lag.

Das ehemals rote Shirt, war überall geflickt. Die Säume nicht nur einmal, sondern oft. So oft, das man es nicht mehr zählen konnte. Manchmal fand sie kaum intakte Stellen, in die sie die Nadel stechen konnte, und der Faden riss immer wieder aus. Doch niemals wäre sie auf die Idee gekommen, das alte Stück zu entsorgen. Sie trug es immer, wenn sie sich wohlfühlen wollte. Es beengte nicht, da es mindestens schon 3 Nummern grösser und ewig lang war. Fast wie ein Schlabberkleid. Sie musste nicht achten, das kein Fleck darauf kam, denn es waren bereits soviel Flecken darauf, die über die Jahre in den Stoff eingezogen waren, das einer mehr oder weniger, garnicht auffiel.

Wie alt war es? 35 Jahre? Oder noch älter? Sie hatte es jedenfalls schon, seit ihre Tochter geboren war. Damals hatte sie es getragen, und später immer mal wieder, wenn irgend etwas passierte. Nicht weil es Absicht war, aber es wurde oft getragen. Sie hatte fest vor, es bis zu ihrem Tod zu tragen. Denn sie war treu. Sie liebte dieses Shirt, und darum flickte sie es immer wieder.

Manchmal hatte sie es an, wenn umangekündigt Besuch kam, und wurde gefragt, warum sie das „olle Ding“ denn immer noch trug. Und dann erzählte sie von den schönen und schlechten Zeiten in diesem Shirt. Von dem ersten, der Geburt ihrer Tochter, dann der Geburt ihres Sohnes, dem Tod ihres Mannes, das neu verlieben am Telefon, der Einlieferung ins Krankenhaus und anderen, für sie wichtigen Dinge und Ereignissen, bei denen sie dieses Shirt angehabt hatte.
Es war immer da und hatte sie nie im Stich gelassen, wie die Menschen es oft getan hatten.
JA! Es war hässlich geworden in den Jahren und alt, aus der Form gegangen und hatte Farbe verloren, bekam immer neue Löcher und Risse, musste immer öfter geflickt werden. Nähte die, mit der Zeit, aufgingen, Fäden die gezogen wurden, und kleine Löcher machten, Stellen an denen man hängenblieb und Risse ins Shirt bekam und je mehr das Shirt verschliss, desto lieber hatte man es, denn es wurde immer mehr so, wie man es am liebsten trug.

Als sie so nachdachte, über das Shirt und sie, fiel ihr auf, das das Shirt genau das erfüllte, was sie sich unter einer lebenslangen Partnerschaft vorstellte. Nur das das hier kein Mann war. Männer hielten heute kaum noch so lange, wie ein gutes Kleidungsstück es tat. Völlig egal, wie gut ma sie Pflegte. Irgendwann lösten sie sich in ihre Bestandteile auf.
Aber Männer wollten auch kein ausgeleiertes Kleidungsstück. Sie kauften lieber immer neue Kleidung, auch wenn die, die sie kauften, von der Stange war. Es war ihnen egal, wenn viele mit dem gleichen Stück herumliefen. Hauptsache es war neu und hatte noch seine Form und Farbe. Sah es nicht mehr so aus, wurde es weggeworfen und etwas neues angeschafft.

Sie nahm ihr Shirt, rieb es an der Wange, und verspürte ein seltsames Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit. Sie wurde müde, so müde…

Autor:

Claudia Jacobs aus Mülheim an der Ruhr

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