Buch der Woche: Die kleinen Monster von der Insel

Thomas Hettches Roman „Pfaueninsel“ – auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises

„Die junge Königin stand einen Moment einfach da und wartete, dass ihre Augen sich an das Halbdunkel des Waldes gewöhnten“, heißt es im ersten Satz des neuen Romans aus der Feder von Thomas Hettche, der uns nach seinen ganz nah an der Gegenwart arrangierten Romanen „Die Liebe der Väter“ (2010), „Woraus wir gemacht sind“ (2006) und „Der Fall Arbogast“ (2001) nun in ein historisches, märchenhaft-schauriges Ambiente entführt.

Handlungsort ist die reale Pfaueninsel im Berliner Südwesten, ein im Wannsee gelegenes geschichtsträchtiges Eiland, das von diversen Monarchen als Rückzugsort genutzt wurde. Das kleine Schloss wurde 1794 für Friedrich Wilhelm II. und seine Mätresse gebaut. Hettches Roman spielt im frühen 19. Jahrhundert, und wir begegnen auf der Insel einer reichlich exotisch anmutenden Kulisse. Känguruhs und Löwen bewegen sich zwischen Palmen, die Pfaueninsel wirkt wie ein „Spielplatz“ der Monarchen. Und mittendrin tummelt sich das Geschwisterpaar Marie und Christian, die an Chondrodystrophie (eine Form des Zwergwuchses) leiden. Als kleine Kinder sind sie den Monarchen als exotische „Dekoration“ für ihr Lustschloss angereicht worden.

Verbotene Liebe
Zwischen den Geschwistern, die ein inzestuöses Verhältnis verbindet, steht Gustav Fintelmann, der Neffe des amtierenden Hofgärtners Friedrich. Ein smarter, intelligenter Biologe, in den sich die Zwergin Marie verliebt, der sich aber heimlich zu ihrem Bruder Christian hingezogen fühlt. Hier köcheln die Gefühle, es steigt der Blutdruck ins Unermessliche, Hettche inszeniert eine Art „Frühlingserwachen“-Update. Die Sexualität spielt eine zentrale Rolle, auch hier ist die Prise Exotik, das etwas Andersartige, die Triebfeder. Eine faszinierende tropische Schwüle legt sich auf die Handlung. Der Wunsch, sich alle Kleider vom Leib reißen zu wollen, scheint auf der Pfaueninsel omnipräsent zu sein.
Doch es geht um weit mehr als unzeitgemäße „Liebeleien“ und gartenbauliche Experimente. Die junge Königin Luise erschrak beim Anblick des Zwergs Christian und bezeichnete ihn in einem Aufschrei des Entsetzens als „Monster“. Die streng hierarchische Welt auf der „Pfaueninsel“ scheint diese Form des perfiden Rassismus ebenso zu tolerieren wie die fortwährenden Eingriffe in die Natur. „Die Natur ist nicht perfekt. Es ist Arbeit, ihr das Schönste zu entlocken“, so Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné.

Künstlicher Ort
Der 49-jährige Thomas Hettche, einer der profiliertesten Autoren der mittleren Generation, erzählt das Gros der Handlung aus Maries Perspektive. Sie lässt sich auch durch den tragischen Tod ihres Bruders nicht unterkriegen und kommt ein wenig wie eine emanzipatorische Vorkämpferin daher. Sie wird schwanger, das Kind wird ihr entrissen, sie bleibt auf bewundernswerte Weise unbeugsam, und man fühlt sich an den Rebellengestus des Oskar Matzerath aus der „Blechtrommel“ erinnert.
Die „Pfaueninsel“ ist ein künstlicher Ort mit streng reglementierter Schönheit. Natur und Menschen sind mit Brachialgewalt domestiziert worden – ein alles andere als paradiesisches Areal, viel mehr ein Ort des gigantischen Selbstbetrugs und schlimmer Unterdrückung.

Erdrückender Perfektionismus
Das ist alles von Thomas Hettche sehr ambitioniert angelegt und kenntnisreich bis ins kleinste Detail arrangiert. Er lässt uns an biologischen Abhandlungen über die Entwicklungsgeschichte der Hortensie teilhaben und schlägt eine perfekte essayistische Volte zu Chamissos „Peter Schlemihl“. Keine Frage, Thomas Hettche hat wieder einmal bewiesen, dass er ein intelligenter und hochbegabter Autor ist. Aber sein Drang zum Perfektionismus, diese beinahe mathematische Linienführung erschwert den Zugang zum Roman beträchtlich und raubt ihm die erzählerische Leichtigkeit. Manchmal kann auch in der Literatur weniger mehr sein.

Thomas Hettche: Pfaueninsel. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag. Köln 2014, 344 Seiten, 19,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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