Blätterkrokant

Foto: Claudia Hautumm / pixelio.de

Eine Geschichte von Britt Glaser aus Oer-Erkenschwick

Ralf wühlte zwischen Sweatshirts und Hosen im Kleiderschrank. Da musste irgendwo seine Mütze sein, er war sicher, sie nach dem letzten Winter hinter die Kleidung gestopft zu haben.
Der Kalender zeigte erst Anfang Oktober, es nieselte und der Wind wehte heftig, so empfand man das Wetter viel kälter, als es war. Aber trotzdem liebte Ralf es, mit dem Hund durch die Natur zu streifen.
Er suchte, doch die Mütze blieb verschwunden. Stattdessen fand Ralf seinen vermissten Lieblingsgürtel und ein Paar Socken zwischen den Schlafanzügen. Wie die wohl da hinkamen, überlegte er. Jedoch keine Spur von der Mütze. Hinter den T-Shirts knisterte etwas und Ralf zog ein Paket Dominosteine hervor. Oh je, die hat Ute bestimmt im letzten Jahr übersehen, freute sich Ralf und suchte auf der Verpackung das Haltbarkeitsdatum. Da er aber die Schrift auf den Verpackungen und die Preise im Supermarkt ohne Brille nur noch unscharf sehen konnte, gab er das Suchen auf und öffnete die Packung. Seine Geschmacksnerven würden verraten, ob sie noch essbar waren. Sie waren es! Früher gab es schließlich auch kein Haltbarkeitsdatum! Das ist doch nur wieder eine Erfindung, die die Wirtschaft ankurbeln soll, dachte Ralf und schob sich den nächsten Dominostein in den Mund.
Den Kleiderschrank weiter durchforstend, fand noch ein weiteres Paar Socken und eine Tüte Blätterkrokant.
Die Ute ist aber auch schusselig, lachte Ralf, vergisst die guten Süßigkeiten. Sofort testete er auch diese.
Später ging er satt, aber ohne Mütze mit dem Hund spazieren.
Die nächsten Tage wurden wieder wärmer, so suchte Ralf erst Mitte Dezember, als der erste Schnee fiel, erneut nach der Kopfbedeckung. Jede Schublade, jeder Schrank im ganzen Haus wurden ohne Erfolg durchsucht. Zu guter Letzt stand Ralf wieder im Schlafzimmer. Knisternd fanden sich statt der Mütze zwei Tüten Marzipankartoffeln und Spekulatius.
Ralf verstand nicht, wieso er die bei der letzten Suche nicht gefunden hatte.
Er naschte ausgiebig, befand alles für einwandfrei und versteckte die Reste in seiner Arbeitstasche. Er wollte seine Frau nicht mit der Nase darauf stoßen, sie würde dann nur sauer auf sich selbst sein und alles wegwerfen. Und das wäre viel zu schade.
Beim Großeinkauf vor dem Heiligen Abend war der Einkaufswagen schon ziemlich voll, als Ralf und Ute an Schokolade, Marzipan und all den Weihnachtsköstlichkeiten langgingen. Ralf lief bereits das Wasser im Munde zusammen und er griff nach den Tütchen mit Blätterkrokant.
„Wir brauchen nichts mehr, ich habe für die bunten Teller schon alles besorgt,“ meinte Ute.
„Aber ich dachte…“, sagte Ralf.
„Nun denk nicht, sondern sieh auf den Einkaufszettel, damit wir nichts vergessen“, bedeutete Ute, die wie jedes Jahr kurz vor dem Fest sehr gereizt war.
„Ach ich neh´m noch etwas mit, nicht das wir zu wenig haben“, sagte Ralf und legte zwei Tüten in den Einkaufswagen.
Ute griff die Tüten und legte sie mit den Worten: „Ich habe jahrelang für die bunten Teller eingekauft und hatten wir je zu wenig?“ zurück ins Regal:
Ralf fand es sinnvoller, nicht zu antworten. Blickte Interesse heuchelnd den Einkaufszettel in seiner Hand an und sagt: „So nur noch Säfte, dann haben wir alles.“
Am Nachmittag des 24. Dezember schmückte Ralf den Baum. Sonst die Jahre kam Ute ab und an ins Wohnzimmer und machte Bemerkungen darüber, wo zu viel, oder zu wenige Lichter hingen, aber heute hatte sie sich nicht ein einziges Mal blicken lassen. Ralf hing die letzte Glaskugel an den Baum und suchte nach Ute. Schließlich fand er sie im Schlafzimmer auf dem Bett sitzend vor spärlich gefüllten Weihnachtstellern.
„Ich glaube, dieses Jahr habe ich etwas zu viel gearbeitet“, flüsterte Ute, den Tränen nahe, „denn ich war mir hundert prozentig sicher, dass ich Leckereien für die Weihnachtsteller eingekauft hatte. Im Schrank habe ich sie versteckt, wie die Jahre zuvor. Damit du sie nicht findest und womöglich vorm Heiligen Abend isst. Aber es ist kaum was da, nur zwei Tüten Marzipankartoffeln und Lebkuchen. Ich bin völlig verwirrt.“
„Aber Schatz ich …“, er überlegt kurz und sagte: „Ich könnte noch schnell was kaufen.“
„Die Läden haben bereits zu“, sagte Ute traurig, „und wir haben nichts für die bunten Teller.“
Ralf setzte sich neben seine Frau, legte einen Arm um ihre Schultern und sprach leise: „Ich rede schon lange, dass du nicht so viel arbeiten sollst. Mach ein paar Stunden weniger, dann bist du auch nicht so gereizt. Und mit den bunten Tellern, das macht nichts, wenn uns morgen deine Mutter und Tante Inge besuchen, werden sie sicherlich wieder tütenweisen Süßes mitbringen.“
„Du bist also nicht böse,“, fragte Ute, „obwohl du so gern naschst und sogar noch was kaufen wolltest.“
„Schatz, könnte ich dir böse sein?“, sagte Ralf großspurig.
Ute umarmte ihren Mann, der auf seine Unterlippe biss und sich vornahm, ihr irgendwann die Wahrheit zu erzählen. Vielleicht Sylvester, eines Jahres.

Diese Geschichte wurde in dem Buch "Frohe Weihnachten in Herzen" (Band 3) im Elbverlag veröffentlicht (ISBN 978-3-9411273-33-3).

Autor:

Lokalkompass Oer-Erkenschwick aus Oer-Erkenschwick

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