#Mitdiskutieren: Muss Schule Schüler auf das Leben vorbereiten?

Jan Lührsen (17)
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(von Leon Reinecke)

Damit hatte die Kölner Schülerin Naina wohl nicht gerechnet, dass sie mit ihrem Beitrag auf Twitter darüber, dass Schule nicht aufs Leben vorbereite, sie und andere aber ein Gedicht in vier Sprachen interpretieren könne, eine bundesweite Diskussion lostritt.

„Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.“ Das waren die genauen Worte, die die 17-Jährige auf Twitter schrieb und die das aussagen, worüber inzwischen Generationen in Deutschland diskutieren.
In einer Umfrage in Hattingen äußern sich Schüler, Lehrer und ehemalige Schüler des Gymnasiums Waldstraße. Dabei zeigt sich, wie unterschiedlich die verschiedenen Parteien denken, aber auch, dass die Lehrkräfte ihre Schüler verstehen, wenn diese fragen, wofür man den Unterrichtsstoff eigentlich benötigt.
Die Schüler stellen sich zu einem Großteil hinter Naina und ihrer Meinung. Sie finden, dass die Schule ihre Aufgabe verfehlt. Für sie soll die Schule auf das spätere Leben vorbereiten. Den Sinn hinter Logarithmen, Mimese oder Geräteturnen für ihre weitere Laufbahn sehen sie nicht.
Zwar empfinden die Jugendlichen den Unterrichtsstoff nicht zwangsläufig als unnötig, aber doch als überbewertet und durch die Lehrpläne würden andere Themen zu kurz oder gar nicht dran kommen.

Logarithmus keine Hilfe gegen Schulden

Gymnasiastin Henrike Rohde sagt: „Ich stimme dem Mädchen vollkommen zu. Wir lernen in der Schule Sachen wie Logarithmus, Untersuchung von Exponentialfunktionen oder physikalische Gesetze. Doch irgendwann ist die Schule vorbei und wir stehen mitten im Leben und alle möglichen Sachen wie Steuererklärungen, Mietrechnungen oder Schulden kommen auf uns zu und da hilft uns auch kein Logarithmus. Ein Lehrer hat uns mal gesagt, dass für irgendetwas ja auch die Eltern da wären. Aber ich dachte immer, die Schule soll uns auf unsere Zukunft vorbereiten und das ist meiner Meinung nach nicht mit Mathe, Chemie und Physik allein getan. Ich finde, es sollte ein extra Fach geben, in dem wir all‘ diese wichtigen Dinge lernen.“ “
Philosophielehrer Andreas Breitenbach hat seine zehnte Klasse zu der Aussage der jungen Kölnerin diskutieren lassen. Nur ein Schüler des Kurses war der Auffassung, dass die Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht wird. Sieben Schüler meinten, dass die Schule ihre Aufgabe verfehlt und 13 stimmten für einen neuen Kompromiss, der gefunden werden müsse.
Einige Schüler behaupteten, dass man nicht für sein Leben lerne, sondern für gute Noten in einer Klausur. Sei die Klausur dann geschrieben, werde alles auswendig Gelernte wieder vergessen. Der Notendruck sei immens und das G8-System würde die Situation für Schüler noch mehr erschweren. Gerade Gymnasien seien zu theoretisch in manchen Belangen. Allerdings glauben manche, man könne an einen Vertrag ran gehen wie an eine Gedichtsanalyse. Man nehme den Text in seine Einzelteile auseinander, bis man jedes Detail kenne.

Wir werden mit vielem scheinbar Unnützen vollgeworfen

Schüler Jan Lührsen: „Es steht wohl außer Frage, dass sich Schüler auch in ihrer wenigen Freizeit mit Dingen beschäftigen müssen, die sie in ihrem späteren Leben brauchen. Aber die Schule sollte mal einen Anreiz dazu schaffen. Sich nach neun Stunden für solche Dinge noch aufzuraffen, das ist sehr schwer. Es liegt an unserer Bereitschaft, aber auch an der Motivation, die uns die Schule mitgibt. Naina hat schon recht, dass wir mit vielem scheinbar Unnützen vollgeworfen werden in der Schule, aber sie steht gleichzeitig auch in der Verantwortung, uns für unsere Zukunft vorzubereiten.“
Der Sport- und Erdkundelehrer Jörg Pelzer kann eine gewisse Alltagsferne der Schule zum Leben erkennen. Er flachst, dass man im Sportunterricht das lästige Geräteturnen abschaffen könne und man dafür den Wechsel von Sommer- auf Winterreifen erlerne.
Aber er erzählt auch aus seinem eigenem Leben, dass er sich sehr viel selbst angeeignet habe mit Hilfe seiner Familie und Freunden. Diese könnten einem Jugendlichen jedoch keine Analyse beibringen, dafür sorge die Schule. Er bedauert, dass Naina sich diesen Input nicht in ihrem privaten Umfeld geholt hat.
Jörg Pelzer behauptet, dass vor allem die Langeweile – welche in dem Zusammenhang gar nicht negativ sei – die Schüler früher öfter dazu getrieben habe, in die Bücher zu schauen, wenn sie beispielsweise auf den Bus warteten. Heutzutage, wo jeder Jugendliche ein Handy besitze, würde es diese Langeweile nicht mehr geben, denn die Zeit, bis der Bus komme, könne man sich nun mit WhatsApp oder Candy Crush vertreiben statt zu lernen.
Auch andere Lehrer, beispielsweise Politiklehrer Alexander Weng, widersprechen der Aussage der jungen Schülerin Naina. Gerade der Politikunterricht zeige den Schülern das, was Naina so vermisst.

Unterricht ist alles andere als realitätsfern

Die stellvertretene Schulleiterin Dr. Cornelia Bering meint, dass der Unterricht alles andere als realitätsfern sei. Sie nennt als Beispiel die Medienerziehung, Suchtprävention, Ernährungsfragen, das Betriebspraktikum, die Berufs- und Studienberatung oder auch Fragen aus Politik und Wirtschaft, die im Unterricht besprochen werden.
Sie erinnert an die Lehrpläne, welche die Schulen vorgegeben bekämen und an die sie sich zu halten hätten. Außerdem müsse nach den Bildungszielen eines Gymnasiums gefragt werden, die nun mal so ausgelegt seien, dass man dort das Analysieren von Texten erlerne.
Die befragten Lehrer scheinen sich einig, dass Erziehung und Zukunftsfragen nicht nur die Aufgabe der Schule sein kann, sondern vor allem immer noch die der Eltern ist. Außerdem können Lehrer sowieso nur begrenzt Einfluss nehmen, denn mehr als 120 Minuten sehen sie die meisten ihrer Schüler nicht in der Woche.
Auch ein Ehemaliger des Gymnasiums, Marius Mielke, sieht die Schüler mehr in der Pflicht: „Wer in vier Sprachen eine Analyse schreiben kann, der kann auch ohne Probleme nach dem Umgang mit Mietverträgen googeln.“
Die Schüler der zehnten Klasse des Gymnasiums sprechen sich für einen Kompromiss aus, dass es etwa wieder ein Fach wie Hauswirtschaftslehre geben soll. Carl Sondermann bemängelt: „Neben wirtschaftlichen Aspekten sollten auch zum Beispiel Themen wie Ernährung intensiver behandelt werden. Die wenigsten Schüler werden wissen, wie man sich ein gesundes Essen zubereitet. Ich finde, dass Schule auf das gesamte Leben vorbereiten sollte. Auch aktuelle Politik wird zumindest an meiner Schule zu null Prozent behandelt.“
Auch Themen wie Bewerbungen würden deutlich zu kurz besprochen, obwohl gerade diese für sie so wichtig seien.

Autor:

Roland Römer aus Hattingen

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