Jobcenter Märkischer Kreis unterstellt Kundin unwirtschaftliches Verhalten

Wann die Geldbörse abhandengekommen ist, konnte sie nicht sagen. Irgendwann zwischen 11:50 Uhr und 15:00 Uhr. Beim Einsteigen in den Bus hatte sie ihre Fahrkarte noch hervorgeholt. Beim Wechsel in die Anschlusslinie nicht mehr. Der Fahrer kannte sie. Zuhause stellte sie fest, das Portemonnaie war weg, darin ca. 290,00 € Bargeld und die besagte Monatskarte für 71,20 €.

Der Verlust ist für die alleinerziehende Frau eine Katastrophe. Fast die gesamte monatliche Regelleistung für einen Monat. Finanzielle Reserven gibt es keine, aber dringende Bedarfe. Medikamente werden benötigt, Schulbeiträge müssen entrichtet werden und auch Fahrkarten für die Kinder sind fällig.

Schweren Herzens suchte sie am 16.09.2015 die Notfallsprechstunde des Jobcenter Märkischer Kreis auf, um ein Darlehen über 200,00 € zu erbitten. Das reichte nicht: betteln soll sie! „Sie schon wieder.“ Die Jobcenter-Mitarbeiterin versucht die Frau abzuweisen. Sie geht nicht. Sie muss ihre Familie versorgen. Der Sachgebietsleiter wird hinzugerufen. Er möchte die Frau mit Lebensmittelgutscheinen abspeisen.

„Ulli, kommst Du mal dazu.“ Sie hatte mich auf dem Flur gesehen. Mein vorheriger Beistandstermin hatte sich inzwischen positiv erledigt und ich gesellte mich zu ihr, um mir diese Sachverhalte anzuhören. Lebensmittelgutscheine – aber auf welcher Rechtsgrundlage? Alkohol, nein! Drogen, nein! Unwirtschaftliches Verhalten, nein!

„Unwirtschaftliches Verhalten!“ Basta.
Ich war irritiert. Die Frau trug vor, dass ihr Portemonnaie weggekommen sei, und gab sich die Schuld dafür. Aber ob sie es verloren hatte oder es ihr gestohlen wurde, konnte sie nicht sagen. Aber was es auch war, es war ihr persönlicher Schaden, der auf ihr allein sitzen blieb, aber unwirtschaftliches Verhalten? – Nein!

„Lebensmittelgutscheine – oder nichts.“

Die „Abweichende Erbringung von Leistungen“ regelt das SGB II in § 24:

(2) Solange sich Leistungsberechtigte, insbesondere bei Drogen- oder Alkoholabhängigkeit sowie im Falle unwirtschaftlichen Verhaltens, als ungeeignet erweisen, mit den Leistungen für den Regelbedarf nach § 20 ihren Bedarf zu decken, kann das Arbeitslosengeld II bis zur Höhe des Regelbedarfs für den Lebensunterhalt in voller Höhe oder anteilig in Form von Sachleistungen erbracht werden.

Als Grundsatz für jede Leistungserbringung gilt jedoch § 10 (3) SGB XII:

(3) Geldleistungen haben Vorrang vor Gutscheinen oder Sachleistungen

Das Jobcenter Märkischer Kreis hat sich von Anfang an in Hunderten von Fällen über diese klaren Gesetzesvorgaben hinweggesetzt, obwohl im Jobcenter in Iserlohn ein Geldautomat für die Bargeldauszahlung vorgehalten wird. Hilfsweise ist auch die Auszahlung von Barschecks gebräuchlich.

„Lebensmittelgutscheine – oder nichts.“

Bei dem Rechtsanwalt und ehemaligen Leiter der Widerspruchstelle des Jobcenter Märkischer Kreis darf ich diesen Kenntnisstand wohl voraussetzen. Aber er mauert.

Um eine sachliche Klärung im Interesse des Geschädigten erzielen zu können, erschien der Weg zur Geschäftsführung als der geeignete. Ein Termin konnte für den Folgetag eingeräumt werden.

Strafanzeige gegen unbekannt

Wo ist die Geldbörse? Verloren oder gestohlen? Die Selbstvorwürfe waren nicht geeignet diese Frage abschließend zu beantworten. Ein ehrlicher Finder hätte anhand der Monatskarte die Geldbörse zurückbringen können, ein unehrlicher wäre zum Täter geworden. Bei Trickbetrug läge ein Straftatbestand vor.

Also wurde der Verlust aktenkundig gemacht und eine Strafanzeige gegen unbekannt eingeleitet.

Entgegenkommen seitens der Geschäftsführung des Jobcenters

Am folgenden Morgen begleitete ich die Frau zum Gespräch mit dem stellvertretenden Geschäftsführer, zu dem auch der Sachgebietsleiter vom Vortag zugegen war. Dieser hatte die Leistungsakte hinzugezogen und nachgeschlagen.

Belastend wurde zunächst bekannt, dass in den letzten Jahren nun zum dritten Mal ein Darlehensantrag mit einem Diebstahl begründet wurde. Musste man daraus nicht auf Methode schließen? – Dagegen spricht, dass aus Darlehen kein finanzieller Nutzen entsteht, da die Summe vollständig zurückgezahlt werden muss.

Als dann aber zur Begründung von Gutscheinen wegen unwirtschaftlichen Verhaltens vorgetragen wurde, dass im Mai 2014 ein Darlehen beantragt worden war, weil die alte Waschmaschine kaputt gegangen war, waren meine Zweifel zerstreut. Und im Juli 2015 ging der Kühlschrank kaputt . . .

Unwirtschaftliches Verhalten? – Nein.

Ich fragte den stellvertretenden Geschäftsführer, ob er sich ganz sicher sei, dass er nicht auch einmal das Opfer eines Trickbetrügers werden könnte? – So kühn aber wollte er nicht werden.

Kann einem möglichen Opfer eines Trickbetrügers denn unwirtschaftliches Verhalten vorgeworfen werden?

„Unwirtschaftliches Verhalten liegt grundsätzlich vor, wenn keinerlei wirtschaftlich vernünftige Überlegungen angestellt werden. Das kann z. B. auch bei vorzeitigem Verbrauch von Einkommen gegeben sein, wenn Einnahmen sinnlos verschwendet werden.“
[…]
„Zu berücksichtigen ist stets, dass die Leistungen für den Regelbedarf bewusst als Pauschale gewährt wird, damit die Leistungsberechtigten selbst über die Deckung ihres Lebensunterhaltes befinden können. So sind z.B. der Genuss von Tabak und der Konsum von Alkohol für sich allein noch kein unwirtschaftliches Verhalten.“
Haufe

Die Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen stellt außerhalb der engen gesetzlichen Vorgaben (§ 24 SGB II, § 31 SGB II) bereits eine rechtswidrige Bevormundung der Leistungsberechtigten dar.
Die Bevormundung umfasst aber nicht nur, die Vorgaben der Kaufprodukte, sondern zwingt dem Leistungsberechtigten ein eingeschränktes Kaufverhalten durch Vorgabe der Geschäfte.

Auf Rückfrage der Kundin wusste weder der stellvertretende Geschäftsführer, noch der Sachgebietsleiter, eine klare Aussage zu machen, in welchen Geschäften Lebensmittelgutscheine des Jobcenters überhaupt angenommen werden.

Nach interner Beratung wurde dann der Vorschlag unterbreitet, dass das rückzahlungspflichtige Darlehen zu 50,00 € in Bargeld ausgezahlt werden können und 150,00 € in Lebensmittelgutscheinen.

Die Kundin bestand auf Bargeld. Zuletzt ging sie mit 150,00 € in bar und 50,00 € in Gutscheinen.

Eine Rechtsgrundlage für die Gutscheinausgabe gibt es nicht. Der Verwaltungsaufwand ist höher als erforderlich.

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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